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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 24. Oktober 2006; 18:42
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Geschichte/Kommentar der Anderen:

> Goetzendaemmerung in Moskau und Budapest

Vor 50 Jahren begann der Niedergang des Stalinismus


Am 25. Februar 1956 wurden die schon abreisebereiten 1.500 sowjetischen
Delegierten des 20. Parteitags der KPdSU - nicht aber die auslaendischen
Gastdelegierten - ueberraschend noch einmal zu einer Sondersitzung
zusammengerufen. Nikita Chruschtschow, der Generalsekretaer, las ihnen eine
mehrstuendige Anklagerede gegen Stalin vor: "Ueber den Personenkult und
seine Folgen". Chruschtschow stuetzte sich auf den Bericht einer im Herbst
1955 (gegen den Widerstand Molotows) eingesetzten Kommission, die den gegen
die Kommunistische Partei gerichteten Terror der Jahre 1936-1938 naeher
untersucht hatte. Chruschtschow prangerte weder Stalins
Herrschaftsinstrument, die GPU, noch den "Archipel GULAG" der Zwangsarbeits-
und Vernichtungslager an, weder Stalins internationale Politik noch die
Zwangskollektivierung oder den "politischen Genozid" (Isaac Deutscher) - die
Vernichtung aller oppositionellen Gruppen innerhalb und ausserhalb der
Partei. Seine Anklage beschraenkte sich auf die "Zerstoerung" der (laengst
schon stalinisierten) Partei in den Jahren nach 1934, auf das militaerische
Desaster von 1941 und auf die strafweise Deportation ganzer Ethnien. Stalins
Despotie bezeichnete er (wie vor ihm schon Malenkow) verharmlosend als
"Personenkult", den Massenterror umschrieb er mit "Verletzung der
sozialistischen Gesetzlichkeit". Die Delegierten traf es wie ein Schock.
Alexander Jakowlew, der unter ihnen war, berichtete spaeter, sie seien so
ueberrascht und beschaemt gewesen, dass sie nicht gewagt haetten, einander
auch nur in die Augen zu sehen. Einigen der noch anwesenden kommunistischen
Parteifuehrer wurden in der Nacht zum 26.2. Uebersetzungen der
Chruschtschow-Rede vorgelesen. Das SED-Politbueromitglied Karl Schirdewan
sagte nach seiner Rueckkehr aus Moskau zu seiner Frau: "Stalin ist fuer die
Geschichte gestorben!" Im "Westen" wurde die Chruschtschow-Rede schon im
Juni 1956 veroeffentlicht. Die 7,2 Millionen Mitglieder der KPdSU (etwa 3,6
Prozent der Bevoelkerung) wurden durch Verlesung des Dokuments mit dem
Inhalt vertraut gemacht; gedruckt erschien der Text in der Sowjetunion aber
erst drei Jahrzehnte spaeter. Hatte Chruschtschow im Februar 1956 mit seinen
geheimen "Enthuellungen" Stalin aus den Reihen der kommunistischen
Halbgoetter verstossen, so holten Budapester Demonstranten nur acht Monate
spaeter, am 23. Oktober, die sieben Meter hohe, bronzene Statue des Tyrannen
von ihrem Sockel und zerschlugen sie in tausend Stuecke.

Stalin, der "Totengraeber der Revolution", wie Trotzki ihn schon 1926
genannt hatte, war am 5. Maerz 1953 im Alter von 73 Jahren gestorben, mitten
in Vorbereitungen zu einer neuen Welle des Massenterrors, die wohl auch
seine Paladine im "Parteipraesidium" (wie das Politbuero damals hiess) den
Kopf gekostet haette. Der Tod des Zentraldespoten fuehrte im Sommer 1953 zu
Aufstaenden in den sowjetischen Lagern und zur Erhebung gegen das SED-Regime
in der DDR. Diese Emeuten wurden zwar niedergeschlagen, signalisierten aber
den Stalin-Erben, dass es hohe Zeit war, den innenpolitischen Druck in der
Sowjetunion und in den Satellitenstaaten zu maessigen. Die politischen
Repraesentanten der sowjetischen Partei-, Staats- und Wirtschaftsbuerokratie
waren vor allem an der Sicherung ihres eigenen Lebens und der
oekonomisch-politischen Grundlagen ihrer Macht interessiert. Eine Reduktion
des Terrors und eine allmaehliche Besserung des Lebensstandards sollten die
Massen ruhig stellen. Chruscht-schow hatte den Nimbus des "Vaters der
Voelker" zerstoert; er glaubte, die Stalin-Clique koenne sich auch ohne
Stalin an der Macht halten. Doch der "Sowjet-Mythos", dem so viele Millionen
Menschen in den dreissiger und vierziger Jahren angehangen hatten, taugte,
nachdem der Oberhirt der proletarischen Weltherde posthum als ein paranoider
Massenmoerder entlarvt worden war, kaum mehr zur Massenbindung:

Eine erste Initiative zur Ent-Stalinisierung (naemlich zur Freilassung eines
Grossteils der Sklaven des "Archipels GULAG" und zu einer Neutralisierung
Deutschlands) ging absurderweise von Berija aus, dem Chef der Geheimpolizei,
den Stalin 1945 seinem Verbuendeten Roosevelt kurzerhand als "unseren
Himmler" vorgestellt hatte. Chruschtschow, der fuerchtete, Berijas Reformen
wuerden das Regime destabilisieren und Stalins langjaehriger Guenstling
strebe nach der Alleinherrschaft, brachte in den Fuehrungsgremien eine
Mehrheit gegen ihn zustande und sicherte sich die Unterstuetzung
einflussreicher Militaers. Im Juli 1953 wurde Berija verhaftet, wegen
wirklicher und fiktiver Verbrechen angeklagt und gegen Jahresende
erschossen. Stalins Komplizen, jenes gute Dutzend von Parteifuehrern seiner
Fraktion, die die Jahre des Mas-senterrors ueberlebt hatten und an der Macht
wie an den Verbrechen des Despoten beteiligt waren, hatten sich auf diese
Weise von der finstersten Gestalt in ihrer Mitte befreit, vom Herrn des
GULAG, der selbst beim Foltern und Morden Hand angelegt hatte. Von nun an
wurden "Reformen" nur mehr zoegerlich in Gang gebracht; die Parteifuehrer
gingen einen Schritt vorwaerts und hielten dann erschrocken inne oder nahmen
die Neuerung auch wieder zurueck. Sie sahen nicht, dass sie selbst einer
wirklichen Aenderung des Regimes im Wege standen und dass das von ihnen
nicht reformierbare politisch-oekonomische System am Ende dem Kapitalismus
wieder zufallen wuerde. Chruschtschow, der letzte Muschik und Utopist im
Kreml, setzte sich 1957 mit Hilfe der Mehrheit des Zentralkomitees gegen die
stalinistischen Hardliner im Parteipraesidium (Molotow, Kaganowitsch,
Woroschilow) durch. Auf dem 22. Parteitag von 1961 versuchte er noch einmal,
die Ent-Stalinisierung weiter zu treiben. Nach Meinung seiner Genossen aber
war er laengst schon "zu weit" gegangen; sie stuerzten ihn 1964 und
schickten ihn in Pension. Das in seine nachterroristische Phase
eingetretene, im Uebrigen reformunfaehige sowjetische System siechte dann
noch ein weiteres Vierteljahrhundert dahin. Nach der Niederschlagung der
ungarischen Revolution (1956) und des "Prager Fruehlings" (1968), der
gescheiterten Intervention in Afghanistan (1979-1988) und dem schliesslichen
Sieg der (1980 gegruendeten und 1981 wieder verbotenen) polnischen
"Solidaritaets"-Bewegung (1989) unternahm Gorbatschow (in den Jahren
1985-1991) einen letzten Reformversuch. Doch die durch Jahrzehnte von der
millionenstarken KPdSU gegaengelte und von der Geheimpolizei terrorisierte,
durch Krieg und Mangelwirtschaft zermuerbte Bevoelkerung blieb passiv. Nach
dem Scheitern eines Putschversuchs der stalinistischen Fraktion wurden
(1991) sowohl die Kommunistische Partei als auch der Zwangsverband der
Sowjetunion aufgeloest. Nun trat das ein, was die kommunistischen Gegner
Stalins seit den zwanziger Jahren befuerchtet hatten: Staat und Wirtschaft
waren zugrundegerichtet, Partei und Buerokratie suchten ihr Heil in der
Flucht, restaurierten den Kapitalismus und mutierten alsbald zu dessen
neuer, fuehrender Klasse.

Zu einer Ent-Stalinisierung, die diesen Namen verdiente, ist es in den
Nachfolgestaaten der Sowjetunion (und in den Nachfolge-Organisationen der
stalinistischen Parteien) bis heute nicht gekommen. Die Auseinandersetzung
mit der Stalinzeit, die Konfrontation mit der wirklichen Geschichte des
Landes seit 1917 und die Trauer ueber die Menschenmassen, die einem zum
Scheitern verurteilten Projekt geopfert wurden, bleiben kuenftigen
Generationen ueberlassen. Die Oeffnung aller geheimen Archive, die
Identifizierung der Moerder und die Exhumierung der Opfer der Massenmorde
sind vertagt. Keiner von Stalins Schreckensmaennern, die das Jahr 1953
ueberlebt haben, musste sich je vor Gericht verantworten. Noch immer gibt es
auf dem Roten Platz kein Denkmal fuer Stalins Opfer, noch immer residieren
Berijas Nachfolger in der Lubjanka. Die Geheimpolizei, der stalinistische
Staat im Staat, hat die Partei und die Sowjetunion ueberdauert. Einer aus
ihren Reihen, Putin, ist derzeit Praesident der GUS. Und erst vor wenigen
Tagen, im Februar 2006, hat er nicht etwa die Schliessung der
Sondergefaengnisse des FSB (wie der "Inlandsgeheimdienst" inzwischen heisst)
verfuegt - des beruechtigten Folter-Gefaengnisses Lefortowo und anderer
Zentren des Schreckens -, sondern nur "gebilligt", dass sie kuenftig formell
(wieder) dem Justizministerium unterstellt werden sollen...

Die antikapitalistisch und radikaldemokratisch orientierten Minderheiten von
heute muessen den Ausgang aus dem Labyrinth der kapitalistischen
Weltwirtschaft erst noch finden. Die Vergegenwaertigung der
Verfallsgeschichte der russischen Revolution wird ihnen die Sinne schaerfen.
(Helmut Dahmer, die Linke)

Quelle: http://dielinke.at/Programm/index.php?area=1&p=news&newsid=53


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