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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 17. Oktober 2006; 18:38
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Recht/Demokratie/Glosse:

> Geschichte per Gesetz

Die Bestimmungen zum Verbot der "Auschwitz-Luege" waren der Tueroeffner. In
Oesterreich und Deutschland wurde die Leugnung von Nazi-Verbrechen verboten,
um Neonazis auch deswegen verfolgen zu koennen. Damit wurden aber
historische Fakten in Rechtsnormen gegossen und damit aus der
geschichtswissenschaftlichen Sphaere in die juristische verlagert -- aus
einer Erkenntnis, die einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung entsprang,
wurde eine dogmatische, dekretierte Norm.

In der Schweiz und in Spanien wurde generell das Leugnen oder Verharmlosen
von Voelkermord unter Strafe gestellt. Diese Gesetze, die immerhin selbst
keine inhaltlichen Normen festschreiben, verlangen dennoch von der
Geschichtswissenschaft gesicherte Fakten, die die Judikative als Beweis
verwenden kann. Dadurch wird Geschichtswissenschaft aber zu einer
Hilfswissenschaft der Juristerei und hat deren Vorstellungen von Beweis zu
genuegen -- eine bedenkliche Angelegenheit, da eine "objektive", da
unpolitische Geschichtswissenschaft kaum denkbar ist.

Wenn man davon absieht, dass der Staat sich dadurch natuerlich auch selbst
als "antifaschistisch" beweihraeuchern kann, scheint die Intention hinter
solchen legistischen Massnahmen ehrenhaft zu sein. Auch rechtsphilosophisch
ist dagegen nicht einzuwenden, dass es sich dabei um eine Novitaet und damit
um einen Bruch der Rechtstradition handle, stellen doch auch Normen wie
"Ueble Nachrede" oder "Verleumdung" unwahre Behauptungen unter Strafe.

Allerdings wirft es die politische Frage auf, wieweit der Staat in Folge
dieser Praezedenz-Gesetzgebung ermaechtigt wird, ganz generell historische
Fakten sakrosankt zu machen. Warum denn nur die Nacherzaehlung der Nazizeit
rechtlich absichern, das kann man doch auch mit anderen Dingen machen, wenn
es gerade politisch opportun erscheint?

Ein Beispiel dafuer, dass diese Gefahr vorhanden ist, lieferte jetzt die
franzoesische Gesetzgebung mit der Kriminalisierung der Leugnung des
Voelkermords an den Armeniern in der Tuerkei. Sicher ein historisch
abgesichertes Faktum, aber warum wurde dieses Gesetz beschlossen? Die
Gruenen im Europaeischen Parlament erklaeren es in einer Aussendung damit,
dass es wohl ein Wahlzuckerl an die in Frankreich recht starke armenische
Gemeinde war.

Umgekehrt wird aber auch ein Schuh daraus, denn die EP-Gruenen gehoeren zu
den haertesten Verfechtern eines EU-Tuerkeibeitritts und hatten sich massiv
dafuer eingesetzt, dass ein Einbekenntnis der Tuerkei zum Voelkermord an den
Armeniern nicht Beitrittsbedingung sein duerfe. Sie argumentieren, dass
dadurch die Diskussion in der Tuerkei weiter angeheizt wuerde und es dadurch
erst recht nicht zu einer offenen Debatte dort kaeme. Die Argumentation
duerfte nicht ganz unberechtigt sein, doch stellt sich schon sehr die Frage,
ob es da nicht auch um eine unzulaessige Ruecksichtnahme auf die
Befindlichkeiten in Ankara geht.

Denn aus der Geschichte soll man ja bekanntlich lernen. Debatten um den
Holocaust oder den Armeniermord oder den Indianer-Genozid oder Katyn oder,
oder, oder... koennten ja ruhig rein akademisch bleiben, wenn sie nicht die
politische Bedeutung haetten, dass man daraus Schluesse fuer die Gegenwart
und die Zukunft ziehen moechte.

So hat auch die Geschichte der Armenier in der Tuerkei den Konnex zum
Staatsdogma des "gluecklichen Tuerkentums" und der aktuellen
Menschenrechtssituation in diesem Land. Die Gruenen hatten immer betont,
dass ein Beitritt der Tuerkei wichtig sei, um eben diese
Menschenrechtssituation zu verbessern. Dann aber ploetzlich zu sagen, ueber
dieses und jenes Thema reden wir lieber nicht, weil da koennten wir jemanden
vergraemen, ist ein fatales Signal an den tuerkischen Staat.

Die Entscheidung des franzoesischen Parlaments ist daher genauso falsch wie
die Haltung der Europaeischen Gruenen. Politische und historische Fragen
muss man auf politischer und historischer Ebene debattieren. Besteht das
Interesse, zu einer Gesellschaft muendiger Buerger zu kommen? Dann gilt es
zwar sehr wohl historische Wahrheiten zu erkennen, dies ist aber eine
gesellschaftliche Aufgabe, die Historiker und Politiker, vor allem aber
Gesellschaften als Ganze sowie jeder Einzelne leisten muessen -- auch wenn
es weh tut. Eine Beendigung solcher Debatten, egal ob durch Gesetz oder
durch Stillschweigen, ist unangebracht. Das gilt erst recht, wenn hinter
einer solchen Beendigung politische Interessen zu vermuten sind, die mit der
Sache selbst nichts zu tun haben.
*Bernhard Redl*


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