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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 16. Mai 2006; 15:55
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Prinzipielles:

> Denkblockaden

Wir stehen am Rande des Abgrunds -- machen wir den entscheidenden Schritt
vorwaerts


Dem Handeln von Einzelnen (etwa als Konsument/in), einzelnen Projekten oder
auch Grossvorhaben wie dem Global Marshall Plan(1) wird im allgemeinen viel
Bedeutung beigemessen. Zu Recht? Oder handelt es sich dabei um eine Falle?

Urspruenglich wollte ich darauf eingehen, warum der bei vielen wohlmeinenden
Menschen so beliebte Global Marshall Plan (GMP) aus meiner Sicht ein
gefaehrlicher Irrweg sei. Die Absurditaet eines Ansatzes, der in einer schon
weit uebernutzten Welt auf ein Weltwirtschaftswunder setzt, sollte ja
offensichtlich sein ... Die offiziellen Ziele des Global Marshall Plans:
"Weltwirtschaftswunder und Wachstumsschub durch Investitionsimpulse sowie
steigende Kaufkraft"; "Etablierung einer weltweiten Oekosozialen
Marktwirtschaft als ordnungspolitisches Konzept fuer die Globalisierung"

WARUM reagiert eine Oeko-Szene, die ja sonst sehr ruehrig ist, nicht mit
einem Proteststurm auf den Global Marshall Plan, sondern begruesst diesen
teilweise sogar? Unsere "Szene" - also jene Menschen, die nicht die Augen
vor den weltweiten Ungeheuerlichkeiten (Hunger in einer Welt mit genug
Nahrungsmitteln, wachsender oekologischer Raubbau ...) verschliessen - hat
meines Erachtens ein entscheidendes Defizit:

Die Gesetzmaessigkeiten unseres Gesellschaftssystems bleiben meist
unhinterfragt.

Zwar werden Fehlentwicklungen beklagt, die Schweinereien einzelner Konzerne
skandalisiert ..., aber kaum einmal wird nachgefragt, ob dahinter nicht
systembedingte Ursachen stehen koennten.

Wachstumszwang

Dass wir ein System haben, in dem das Kapital entweder waechst oder wir eine
oekonomische Krise haben, wird einfach ignoriert oder als scheinbar
unveraenderbar/"naturgegeben" hingenommen. Der "Erfolg" und die
"Attraktivitaet" des Kapitalismus beruhen ja tatsaechlich darauf, dass den
einzelnen (exakter: den vereinzelten !!!) Wirtschaftsakteur/innen ein ganz
einfaches Richtig/Falsch-Signal fuer wirtschaftliches Handeln gegeben wird:
Profit oder Untergang! Das ist logisch in einem System, das nicht auf
Absprache, Ausreden ... beruht, sondern in dem die Koordination der
gesellschaftlichen Arbeitsteilung "blind" - also ueber die "heilige Kuh"
Markt bzw. das Medium Geld - erfolgt. Selbstverstaendlich ist da nicht der
einzelne "Profiteur" in einem moralischen Sinn schuld, wenn auch noch das
letzte Fleckchen Erde vernutzt wird, sondern wenn da ueberhaupt von Schuld
gesprochen wird, dann ist es die Schuld des Systems "Kapitalismus". Auf den
Punkt gebracht: Ein Geldmodell ist ohne Wirtschaftswachstum nicht denkbar,
ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum gibt es aber auf Dauer nicht.

Wirtschaftskrieger/innen und Belieferungsbeduerftige Maengelwesen

Weitere Kennzeichen dieses Marktsystem sind Konkurrenz/Verdraengung und das
permanente Herauskitzeln von immer neuen Beduerfnissen - aber
selbstverstaendlich nur bei denen, die Geld haben! Marktteilnehmer/innen
muessen notgedrungen zu "belieferungsbeduerftigen Maengelwesen" werden!
Beduerfnisse DUeRFEN gar nicht "nachhaltig" befriedigt werden, denn dann
wuerde ja die Kette der Tauschakte reissen. Nur ueber den Kauf-Verkaufsakt
koennen ansonsten "private" Wesen ihre Isolation ueberwinden - im
Unterschied etwa zu einer Solidaroekonomie, bei der ausgeredet wird, was man
braucht und wie man dazu mit geringstmoeglichem Aufwand kommt. Wie wenig
diese Grundkonstellation unseres System kritisch hinterfragt wird, moechte
ich an Wolfgang Sachs und Franz Fischler(2) thematisieren, die beide in der
Nachhaltigkeitsdiskussion eine wichtige Rolle spielen.

Der Oekologe und Theologe Wolfgang Sachs vom Wuppertaler Institut nennt als
Kriterien fuer Nachhaltigkeit neben Klugheit und Lebenskunst "Fairness".

"'Fairness', was heisst, den Schwachen nicht zu treten, 'denn sonst hoert er
zum Mitspielen auf'. In der komplexen Weltgesellschaft wechselseitiger
Verletzbarkeit sei, so Sachs, Kooperation zur Grundkonstante geworden,
Gerechtigkeit daher ein Imperativ fuer 'Realisten'. Klingt im ersten Moment
sehr humanistisch und kritisch, ist aber bei genauerem Hinsehen nur die
Bejahung des Kapitalismus: Denn wenn Sachs davon spricht, dass 'Kooperation
zur Grundkonstante' geworden sei, dann kann er damit nur die kapitalistische
Form der 'Kooperation' meinen, die eben nur eine indirekte ueber
Tauschakte/Geld ist."

Zu dieser real existierenden entfremdeten Form der "Kooperation" ueber
Konkurrenz und Profitmaximierung passt aber der ebenfalls von Sachs
verwendete Begriff der "Fairness". Damit nennt Sachs ein Schlagwort, das
ueberall, wo es nicht neoliberal-brutal hergehen soll, Furore
macht."Fairness bedeutet, beim Austausch von Waren und Dienstleistungen
keinen Betrug und keine Gaunerei zu begehen, und dasselbe gilt fuer den
Austausch von Gefuehlen. "Was du mir gibst, gebe ich dir", lautet in der
kapitalistischen Gesellschaft die vorherrschende ethische Maxime sowohl fuer
die Waren als auch fuer die Liebe. ... Die Gruende fuer diese Tatsache
liegen im Wesen der kapitalistischen Gesellschaft begruendet. ... Sie [die
Naechstenliebe] bedeutet, den Naechsten zu lieben, das heisst sich fuer ihn
verantwortlich und mit ihm eins zu fuehlen; die Moral der Fairness dagegen
bedeutet, sich nicht verantwortlich und eins zu fuehlen, sondern als
getrennt - also die Rechte der Naechsten zwar zu respektieren, nicht jedoch
ihn zu lieben."

Die Bejahung des bestehenden Systems bei gleichzeitiger voelliger Ignoranz
gegenueber dessen inneren Gesetzmaessigkeiten geht aber in einem zweiten
Punkt weiter, dort naemlich, wo Wolfgang Sachs und Franz Fischler ein
bescheidenes Leben einfordern. Sachs:

"Nicht Mangel, sondern Ueberfluss sei unser Hauptproblem. Dieser erfordere
die Kraft der Orientierung in der Vielzahl der Angebote, die Faehigkeit zum
Nein-Sagen. So wie Musik nicht bedeute, moeglichst viele Toene zu erzeugen,
sondern ein bestimmtes Set an Toenen in wohl gestalteter Form zum Klingen zu
bringen, bestehe Lebenskunst im 'Finden des richtigen Masses'"

Franz Fischler, langjaehriger EU-Kommissar und nun Praesident des
Oekosozialen Forums Europa, unterstreicht, dass "unser bisheriges
Verstaendnis von Wohlstand zu kurz gegriffen" sei. "Mehr Wohlstand durch
weniger Konsum" schaffe hingegen Platz fuer Sinnliches, fuer
Zwischenmenschliches. Die Menge vorhandener Arbeit auf alle zu verteilen,
ueberwinde den Zeitstress der einen und die Existenzsorge der anderen. ..."

Klingt das alles nicht toll? Koennte das nicht direkt aus Oeko-Feder
stammen? Aber denken wir uns das mal durch, was die beiden Herren da
vorschlagen. Was wuerde INNERHALB des bestehenden, von ihnen als GEGEBEN
hingenommenen Systems passieren, wenn etwa die Menschen bei uns zu 90% aus
innerer Einsicht auf die Autos verzichten wuerden? Wenn zusaetzlich in China
nicht mehr der westliche Entwicklungsweg Leitbild sein wuerde, sondern auch
dort die Schlussfolgerung gezogen werden wuerde, dass hunderte Millionen
Fahrraeder im Wesentlichen ausreichen wuerden?

Wuerde dann nicht der sinnvolle Verzicht der Einen zur Not der Anderen
werden (Verlust von Arbeitsplaetzen) und dieser dann wiederum auf alle
zurueckschlagen? Wuerde dann nicht ganz einfach eine Wirtschaftskrise
ausbrechen, Arbeitslosigkeit, soziale Verelendung und und und ...?

Die Frage, die Fischler rhetorisch stellt, naemlich "ob wir als Menschheit
lernfaehig und zur Umsteuerung bereit sind" ist gleichzeitig zu bejahen und
zu verneinen, und zwar in mehrerlei Hinsicht:

1. Die "Masse der Menschen", auf die wir "Aufgeklaerten" so gerne
hinunterschauen, haben schon laengst die traurige Lektion gelernt, dass sie
gar nicht aufhoeren duerfen immer neuen Konsumidiotien hinterherzuhecheln,
denn sonst braeche das ganze Gebilde zusammen.

2. Viele von uns - so fuerchte ich - sind nicht lernfaehig, wenn sie diesen
Systemzwang ausblenden.

3. Ob wir gemeinsam - die "Umweltbewussten" und die "Anderen" - zu einem
Umsteuern im Sinne eines Nachdenkens ueber Systemalternativen bereit sind,
ist fuer mich eine offene Frage.

*Walter Schuetz (gek.)*

Quelle:
http://195.16.237.164/cgi-bin/kaernoel/comax.pl?page=page.std;job=CENTER:articles.single_article;ID=1926


(1) Die Idee fuer einen Global Marshall Plan wurde 1990 von Al Gore in
seinem Buch "Wege zum Gleichgewicht - Ein Marshall Plan fuer die Erde"
entwickelt und in den 90er Jahren u.a. von Franz Alt und Joschka Fischer und
einer Vielzahl von Buergern unterstuetzt. Bedingt durch die geringen
Fortschritte des Rio-Johannesburg-Prozesses, massiver Finanzierungsprobleme
fuer eine global nachhaltige Entwicklung, wurde 2003 in Stuttgart die Global
Marshall Plan Initiative mit prominenter Unterstuetzung gegruendet. In
diesem Plan wird als Ziel eine Entwicklung hin zur Aufhebung des
Nord-Sued-Gefaelles anvisiert ueber den Aufbau einer weltweiten
"Oekosozialen Marktwirtschaft" sowie einer "Ueberwindung des globalen
Marktfundamentalismus". Finanziert soll diese Entwicklung durch
Tobin-Steuer, Umweltabgaben, den Verzicht auf wettbewerbsverzerrende
Agrarexportsubventionen etc. werden.
( http://de.wikipedia.org/wiki/Global_Marshall_Plan_Initiative )

(2) Anm. d. Red.: Die Zitate von Sachs und Fischler duerften von einem
Symposium von SOL 2005 stammen.



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