**********************************************************
akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 22. November 2005; 19:55
**********************************************************

Medien/Glosse:

> Die Tuerkei, der Geheimdienst, die PKK und die Medien

Wenn man Berichte von Geschehnissen in Tuerkisch-Kurdistan liest, vermeint
man oft, Berichte ueber mehrere verschiedene Ereignisse zu lesen, die
miteinander zwar nichts zu tun haben, aber wohl am selben Ort zur selben
Zeit geschehen sein muessen.

Am 10.11. brachte die Nachrichtenagentur AFP folgende Kurzmeldung: "Kurden
setzen tuerkischen Polizeiposten in Semdinli in Brand - Diyarbakir/Istanbul
(AFP) - Im Suedosten der Tuerkei haben kurdische Demonstranten am Donnerstag
einen Polizeiposten in Brand gesetzt. An dem Ueberfall in Semdinli
beteiligten sich mehrere Dutzend Kurden, die Slogans fuer die Arbeiterpartei
Kurdistans (PKK) riefen. Verletzt wurde niemand. Am Mittwoch waren bei einem
Bombenanschlag in Semdinli ein Mensch getoetet und sechs weitere verletzt
worden. Vor einer Woche wurden bei einem Autobombenanschlag in der Stadt 23
Menschen verletzt. Die Behoerden hatten die PKK dafuer verantwortlich
gemacht."

Ja, sehr kurz diese Kurzmeldung. Man erfaehrt aus ihr, dass es drei
Anschlaege gegeben hat, wovon bei zweien ja wohl die PKK verantwortlich zu
machen waere. Und der dritte, in der Berichterstattung dazwischen
eingebettete? Wird wohl auch die PKK gewesen sein, wird dem fluechtigen
Leser suggeriert, wer denn sonst! Fazit: Die PKK bombt schon wieder und der
tuerkische Staat ist hilflos dem Terror ausgesetzt.

Wenn man dann allerdings eine Aussendung der "Gesellschaft fuer bedroht
Voelker" in die Hand bekommt, sieht das Ganze schon ein bisserl anders aus:
"Am 9.11.2005 wurde in der Kreisstadt Semdinli ein Bombenattentat auf eine
Buchhandlung veruebt. Es war der bisher juengste von 14 Bombenanschlaegen
innerhalb von drei Monaten im tuerkischen Kurdengebiet. Dabei wurden die
drei Attentaeter von kurdischen Zivilisten gefasst und entwaffnet. Im Auto
der Attentaeter fand man weitere Waffen, Bomben, sowie Namenslisten von
kurdischen AktivistInnen. Die alarmierten Sicherheitskraefte begannen auf
die Zivilpersonen zu schiessen und brachten die Attentaeter anschliessend
auf das Polizeirevier. Es handelt sich bei diesen um zwei Offiziere der
tuerkischen Armee und einen PKK-Ueberlaeufer. Einer der beiden Offiziere,
Ali Kaya, rief den Vorsitzenden der Gerechtigkeitspartei DYP, Agar Mehmet,
der von der Oeffentlichkeit fuer die meisten der unaufgeklaerten politischen
Morde verantwortlich gemacht wird, an und ersuchte ihn um Hilfe. Daraufhin
wurden die Taeter innerhalb einer Stunde frei gelassen und in einer
Militaerkaserne beherbergt.

Laut einer Stellungnahme von General Bueyuekanit, dem Oberkommandierenden
der Landstreitkraefte, handelt es sich bei den Attentaetern um Offiziere der
geheimen Militaerpolizei (JIT), die ihm persoenlich als ´serioese und
verantwortungsvolle Personen´ bekannt sind.

Waehrend der Ermittlungen des Staatsanwaltes wurde auf diesen geschossen,
worauf er seine Taetigkeit abbrechen musste.

Seitdem kommt es zu Demonstrationen in kurdischen Staedten, die Transparenz
in den Ermittlungen fordern. In der Kreisstadt Yueksekova wurde am 15.11.
von tuerkischen Sicherheitsskraeften auf die friedlichen DemonstrantInnen
geschossen, wobei drei Personen getoetet und 14 verletzt wurden."

Mehr oder weniger duerfte diese Darstellung stimmen. Allerdings kommt in der
Darstellung der GfbV weder der angebliche oder tatsaechliche PKK-Anschlag
eine Woche vorher noch das angebliche oder tatsaechliche Anzuenden einer
Polizeistation vor. "Als Reaktion darauf marschierte eine wuetende Menge vor
das Gebaeude der Sicherheitspolizei und griff dieses mit einem Steinehagel
an. Polizisten schossen in die Menge und toeteten dabei einen Menschen."
berichtet die taz am 12.11. Hatte die GfbV das einfach unter der Tisch
fallen lassen, weil die Demonstranten aus nicht ganz unverstaendlicher Wut
einmal nicht so friedlich waren?

Auch geht aus der GfbV-Darstellung nicht hervor, wozu der Anschlag der
Geheimdienstler eigentlich nuetze gewesen sein soll. Die taz vermutet: "Nur
eine Woche zuvor hatte die PKK einen Anschlag auf die oertliche
Polizeistation unternommen, bei dem ueber 30 Personen verletzt wurden,
darunter auch Passanten. Moeglicherweise war der Bombenanschlag auf den
Buchladen ein Racheakt oertlicher Geheimdienstler." Denn die Buchhandlung
soll einem "stadtbekannten ehemaligen PKK-Kader" gehoert haben. Langsam
ergibt sich ein Bild...

So wirklich geht aus dem taz-Text aber nicht hervor, was der tuerkische
Staat so treibt: "Fast taeglich sterben Soldaten und Polizisten durch
ferngezuendete Minen und direkte Angriffe. Die Armee antwortet darauf mit
immer massiveren Vergeltungsschlaegen." Was heisst das? Ist damit ein
Vorgehen der regulaeren Truppen gemeint oder geht es dabei um jene
erwaehnten "ungeklaerten" 13 Anschlaege vorher? Oder wieviel es auch immer
gewesen sein mochten, denn andere Quellen sprechen von 18 Anschlaegen --
aber wer weiss schon, welchen Anschlag man jetzt serioeserweise wem
zurechnen kann, wenn oft genug unklar bleibt, warum ein Anschlag
durchgefuehrt wurde und wem er gegolten hat; was bei dieser Nachrichtenlage
auch wahrlich kein Wunder ist.

Mittlerweile will das aber auch das tuerkische Parlament wissen (denn es
besteht Handlungsbedarf; soll heissen: Wegschauen geht nicht mehr) und
spielt ein bisserl Demokratie: Abgeordnete der regierenden islamische AKP,
die kemalistische Opposition CHP und die konservative ANAP fordern jetzt
einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss, berichtet die "junge welt".
Und im Webdienst des Deutschlandfunks kann man nachlesen:
"Ministerpraesident Tayyip Erdogan hat versprochen, den Bombenanschlag rasch
und ohne Ansehen der Person aufzuklaeren." Doch "Wie weit, so fragt sich
nicht nur die Menschenrechtlerin Eren Keskin, reicht die Macht der Regierung
bei der Aufklaerung des Falles?"

Aber genau das kennen wir doch seit 1982, als sich das Militaer offiziell
aus der Regierung zurueckgezogen hatte: Das Militaer handelt und die
angeblichen Staatenlenker sehen hilflos zu. Doch es wird uns immer wieder
berichtet, wie demokratisch es im tuerkischen Parlament jetzt schon
zugehe -- ja, schon, aber es erinnert immer ein bisserl an das
"Kinderparlament", das bei uns hie und da im Nationalrat veranstaltet wird,
wo Minderjaehrige gescheite und mahnende Worte an die Maechtigen richten,
die diese am naechsten Tag schon wieder vergessen haben. Aber immerhin kann
man sagen, man sei demokratisch. Und das wird leider von den meisten
Agenturen, Zeitungen und TV-Stationen ernstgenommen, denn die wenigsten
berichten einigermassen serioes wie es taz oder junge welt tun, sondern eher
so wie das eingangs zitierte Beispiel der AFP, wo stillschweigend
Polizeiberichte fuer bare Muenze genommen werden. Und leider muss man auch
ueber einige NGOs wie etwa die GfbV sagen, dass ihre Berichterstattung oft
genug in einem Ausmass interessensgeleitet ist, wie es selbst fuer
Lobby-Gruppen nicht wirklich akzeptabel ist.

In gewissen Masse muss man aber sogar die weniger serioesen Medien und NGOs
in Schutz nehmen, denn sie sind Gold gegen eine andere Gruppe von
Meinungsmachern. So ist naemlich eines all diesen Berichten gemeinsam: Sie
sprechen nicht von einem Land, dass so modern und friedlich ist, wie es die
Befuerworter eines EU-Tuerkei-Beitritts, uns glauben machen wollen resp.
selber glauben, deren Besuche der Tuerkei sie hoechstens in den Innenstaedte
von Istanbul und Ankara gefuehrt haben. Und es behauptet von diesen
Pressetexten keiner -- wie etwa die rechten Tuerkeibeitrittsgegner es
tun --, dass das irgendwas damit zu tun habe, dass dieses Land muslimisch
gepraegt sei. Diese wie jene Politiker kochen naemlich gerne ihr eigenes
Sueppchen und erzaehlen uns Geschichten aus 1001 Nacht, die selbst
Sheherazade ein wenig zu phantastisch gewesen waeren. Wer sich da noch
wundert, dass das europaeische Tuerkeibild ein derart schraeges ist, dem ist
wirklich nicht zu helfen...
*Bernhard Redl*

*

Quellen:
AFP zitiert nach: http://de.news.yahoo.com/051110/286/4rcgu.html
Presseaussendung der GfbV-Oe in: Widerst@nds-MUND 17.11.05
http://www.taz.de/pt/2005/11/12/a0217.nf/text
http://www.jungewelt.de/2005/11-17/013.php
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/europaheute/439198/


***************************************************
Der akin-pd ist die elektronische Teilwiedergabe der nichtkommerziellen
Wiener Wochenzeitung 'akin'. Texte im akin-pd muessen aber nicht
wortidentisch mit den in der Papierausgabe veroeffentlichten sein. Nachdruck
von Eigenbeitraegen mit Quellenangabe erbeten. Namentlich gezeichnete
Beitraege stehen in der Verantwortung der VerfasserInnen. Ein Nachdruck von
Texten mit anderem Copyright als dem unseren sagt nichts ueber eine
anderweitige Verfuegungsberechtigung aus. Der akin-pd wird nur als
Abonnement verschickt. Wer versehentlich in den Verteiler geraten ist, kann
den akin-pd per formlosen Mail an akin.buero@gmx.at abbestellen.

*************************************************
'akin - aktuelle informationen'
a-1170 wien, Lobenhauerngasse 35/2
vox: ++43/1/535-62-00
(anrufbeantworter, unberechenbare buerozeiten)
http://akin.mediaweb.at
akin.buero@gmx.at
Bankverbindung lautend auf: föj/BfS,
Bank Austria, BLZ 12000,
223-102-976/00, Zweck: akin