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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 7. Juni 2005; 17:05
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Indien:

> Nach der Flut die grosse Katastrophe

Fuenf Monate nach der gewaltigen Welle, die auch indische Kuestengebiete
erreicht hatte, leiden noch immer viele Menschen - nicht so sehr an den
Zerstoerungen, sondern an einem Boom von NGOs und an einem Ueberfluss an
Geld. Denn Geld ist genug da, viel zu viel sogar. Und das koennte den
Menschen langfristig mehr Schwierigkeiten bereiten als die Tsunami-Welle.


Der grosse Wettstreit

In einer Reihe solcher Schwierigkeiten steckt beispielsweise die
Tsunami-Hilfskoordination des Evangelischen Social Action Forums (Esaf), die
nach Kolachel im Bundesstaat Tamil Nadu an der Suedspitze Indiens gekommen
war. Rund 800 Menschen wurden im Bezirk Kanniyakumari getoetet, und wie
viele andere NGO konnte sich Esaf angesichts der grossen Hilfsbereitschaft
in Indien und im Ausland dem Druck der Goenner und der staatlichen Agenturen
nicht entziehen - die Katastrophe war eine Herausforderung, der sich alle
NGOs und Hilfswerke stellen mussten, wenn sie glaubhaft und im Geschaeft
bleiben wollten.

Und so richtete das kirchliche Hilfswerk in Kolachel Bueros ein, rekrutierte
Angestellte, versorgte ueber vier Monate hinweg rund 4000 Menschen mit
Lebensmitteln, Gasoefen, Stuehlen, Wassercontainern und Notunterkuenften.
Esaf gehoert zu den wenigen Organisationen, die stets darauf achten, dass
die lokale Bevoelkerung einbezogen wird und ueber die Projekte mit
entscheiden kann; ausserdem hat Esaf-Projektleiter Johnson Thekkadayil
Erfahrung in Katastrophenhilfe. «Der Wirbelsturm in Orissa 1999 und das
Erdbeben in Gujarat 2001 haben eine arme Bevoelkerung getroffen, die aber
durch die Hilfe einen Schritt nach vorne tun konnte», sagt Thekkadayil. Hier
in Kolachel jedoch seien die Menschen wohlhabender, sie verlangten viel.
Warum das so ist? «Der Tsunami hat zu viele Geberorganisationen und NGO
angezogen und zu viele Ressourcen mobilisiert», sagt Thekkadayil. «Die Leute
wissen, dass sie zwischen den Organisationen und deren Dienstleistungen
waehlen koennen.»

Dass die Leute waehlen koennen, ist einerseits keine schlechte Sache. In
Kolachel habe ich eine von der Regierung von Tamil Nadu errichtete
Notsiedlung besucht: ueber hundert Wellblechhuetten, in denen sich aufgrund
der gluehenden Sommerhitze niemand aufhielt. Nur in einer Huette klebten ein
paar Leute an einem Fernseher, der gerade einen Kricketmatch zwischen Indien
und Pakistan zeigte. Sie erzaehlten mir, dass mehrere Menschen, vor allem
Alte und Kinder, in diesen Backoefen ohnmaechtig geworden waren. Die von
Esaf finanzierten Notunterkuenfte wurden hingegen aus lokal verfuegbaren
Materialien wie Baumstaemmen und Kokosmatten gebaut - sie sind billiger,
kuehler und beruhen auf der herkoemmlichen Bauweise.

Andererseits stehen allein in diesem kleinen Gebiet 47 indische und 14
internationale NGOs und Hilfswerke im Wettbewerb. Die meisten haben zwar
monatliche Treffen vereinbart, aber an der Aprilsitzung, die ich besuchen
konnte, wurden nur Informationen ueber Rechtsfragen in Bezug auf neue
Bauvorhaben ausgetauscht. Die Konkurrenz untereinander stand genauso wenig
zur Debatte wie die unterschiedlichen Ansaetze bei der Wiederaufbauhilfe.
Erst nach Ende der Sitzung erzaehlten mir TeilnehmerInnen, wie erbittert die
Konkurrenz tatsaechlich ist. Sie berichteten, dass kurz nach der grossen
Welle etliche NGOs MitarbeiterInnen vor allem mit einem Ziel in das Gebiet
entsandt hatten: Sie sollten Partnerschaften mit der Bevoelkerung des einen
oder anderen zerstoerten Dorfes schliessen. Partnerschaften machen sich im
Hinblick auf kuenftige Spenden immer gut, und vom Spendenfluss haengt ja
auch das Ueberleben der jeweiligen NGO ab.

Die Konkurrenz ist augenfaellig. Es gibt keine Baustelle, keine Unterkunft,
kein Camp, an denen nicht der Name der Geberorganisationen prangt. Alle
haben Tafeln aufgestellt, Transparente aufgehaengt, den Namen an Tueren
gemalt und selbst Stuehle und Wassercontainer mit dem Logo der GeberInnen
verziert. In Kolachel ist Oxfam (das renommierte britische Hilfswerk) ebenso
allgegenwaertig wie Eficor (eine indische Hilfsorganisation) und noch viele
weitere. In anderen Gebieten kleben andere Namenszettel an jeder Rupie
Unterstuetzung. Keine Hilfe ohne Public Relations, keine Solidaritaet ohne
Werbung fuer die eigene Organisation. Aber hilft dies den Menschen wirklich?

Die Menschen in den betroffenen Gebieten haben sich schnell angepasst und
versuchen, das meiste herauszuholen. Sie reden den GeldgeberInnen nach dem
Munde, sie sprechen, wenn man das von ihnen erwartet, und schweigen, wenn es
die Situation erfordert. Sie lernen schnell die Fachbegriffe, uebernehmen
sogar die Akzente und machen die «richtigen» Zusagen. Sie sind auch
jederzeit bereit, sich fotografieren zu lassen, am besten mit den Frauen im
Vordergrund, am liebsten vor dem am meisten zerstoerten Haus im Dorf. Man
kann sie nicht tadeln dafuer - sie haben schneller gelernt, auf was es
ankommt, als die NGOs, die Spenderorganisationen und die Philanthropen von
nebenan.


Schleichende Privatisierung

Katastrophen bieten den Regierungen der Bundesstaaten nicht nur die
Gelegenheit, Budgetprobleme zu bewaeltigen, indem sie einen Teil des Geldes
in die Staatskassen leiten - sie erlauben es auch, Privatisierungsvorhaben
voranzutreiben wie in Tamil Nadu, wo die Regierung seit langem schon das
Gesetz zum Schutz der Kuestenzone aushebeln will. Dieses Gesetz von 1991
untersagt Baumassnahmen in einem 200 bis 500 Meter breiten Kuestenstreifen,
die «gegen die angestammten Rechte der Fischergemeinschaften verstossen.»
Schon seit langem aber fordern Tourismusunternehmen hier eine Baugenehmigung
fuer Hotels und Unterhaltungspalaeste. Bisher hatten die traditionellen
FischerInnen diese Plaene und andere Vorhaben (wie die Einrichtung von
industriellen Fischfarmen) verhindern koennen, wenn auch nicht immer.
Sollten sie im Zuge der Rehabilitierungsmassnahmen aber ins Hinterland
abgedraengt werden (und vieles spricht dafuer), haetten die Investoren freie
Bahn.

Gegen solche Entwicklungen koennen selbst die progressivsten NGOs wenig
ausrichten. In Tamil Nadu z.B. mussten alle NGOs eine Erklaerung
unterschreiben, derzufolge sie «unter allen Bedingungen auf jedwede Klage
gegen die Regierung verzichten». Weil jede Hilfsorganisation zuerst vor Ort
sein wollte, haben alle dieses Verzichtsabkommen unterschrieben - und damit
ihr Recht auf Opposition und ihre Verantwortung fuer die Flutopfer
preisgegeben.


Peanuts und Kriegsschiffe

Nur wenige Stunden nach der Flut hatte Indiens Premierminister Manmohan
Singh den australischen Regierungschef John Howard am Apparat. Howard wollte
wissen, ob er ein paar Kriegsschiffe und Helikopter in die indischen
Gewaesser schicken solle. Singh lehnte dankend ab. Zu diesem Zeitpunkt waren
Indiens Streitkraefte bereits in die betroffenen Regionen unterwegs, zudem
hatten zwei indische Kriegsschiffe Kurs auf die schwer getroffenen
Kuestengebiete von Sri Lanka genommen, um dort unterstuetzend einzugreifen.
Kaum hatte Singh den Telefonhoerer aufgelegt, folgte das naechste
grosszuegige Angebot: Washington offerierte der Regierung in Delhi Hilfe im
Wert von 15 Millionen US-Dollar - dabei hatte Indien zu diesem Zeitpunkt Sri
Lanka schon 23 Millionen angeboten. Singh quittierte dieses Anerbieten, das
Uno-Beamte als «Peanuts» bezeichneten, mit Schweigen; die USA geben fuer die
Besetzung des Irak derzeit rund 100 Millionen US-Dollar aus - pro Tag.

Auch als die USA ihre Hilfszusage auf 35 Millionen erhoehten, um sich an die
Spitze der Gebernationen zu setzen, reagierte die indische Regierung nicht.
Zu diesem Zeitpunkt hatte die EU bereits angekuendigt, der Uno die
Koordination der Hilfsmassnahmen zu ueberlassen. US-Praesident George Bush
bot daraufhin noch mehr Geld, sofern sich Indien einer von den USA
angefuehrten Koalition der Tsunami-Helfer anschliesse - und scheiterte
erneut. Die Mitte-links-Regierung in Delhi wollte verhindern, dass ihr das
Gleiche passiert wie Bangladesch: Dort hatte in den neunziger Jahren
Washington eine Katastrophenhilfe von der Bedingung abhaengig gemacht, dass
sich die US-Truppen im Land frei bewegen koennen. Auch in Sri Lanka sind
derzeit mehrere US-Bataillone unterwegs.

Die Skepsis der indischen Regierung gegenueber den stets an Bedingungen
geknuepften Angeboten aus den USA ist nicht nur auf die - aus Delhis Sicht -
viel zu grosse Einmischung Washingtons in die internen Konflikte von Nepal
und Sri Lanka zurueckzufuehren. Sie beruht auch auf einer in Indien weit
verbreiteten Wahrnehmung geostrategischer Machtverhaeltnisse: einerseits der
USA mit ihren Interessen, andererseits einer Voelkergemeinschaft, der an
Ausgleich und gegenseitigem Respekt gelegen ist. Indiens Hilfe fuer Sri
Lanka war jedoch ebenfalls nicht ganz uneigennuetzig: Die staatliche Indian
Oil Corporation investiert seit einigen Jahren im Nachbarland und bohrt vor
der sri-lankischen Kueste nach Oel.
(Joseph Keve, Kolachel/Alappad; Bearb. & Ue.: Pit Wuhrer, WOZ 26.05.2005 /
st.gek.)


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