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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 23. September 2003; 16:21
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Staat/Glosse:

> Wir brauchen eine neue Verfassung?

Derzeit ist es sehr beliebt, das Verfassungsentwerfen unter Europas
Politikern. Die EU bastelt an etwas, das sie Verfassung nennt, aber weniger
dazu dienen duerfte, demokratieaehnliche Zustaende in diesem Superstaat
herzustellen, sondern effiziente, d.h. von wenigen Entscheidungstraegern zu
"verantwortende", also moeglichst hierarchische Politik fuer ueber eine
halbe Milliarde Menschen zu machen.

Was die EU im Grossen macht, macht Silvio Berlusconi im Kleinen. Sein
neuester Wurf: Der Premier soll das Recht bekommen, das Parlament
aufzuloesen und die Minister auszutauschen -- bislang oblag dies einzig dem
Praesidenten. Weiters sollen Koalitionspartner per Verfassung dazu gezwungen
werden, bis zu den naechsten Wahlen in der Koalition zu bleiben. Der
Ministerpraesident solle ausserdem vom Volk gewaehlt werden.

Ein wenig erinnert das an das franzoesische Verfassungsdilemma. Um einem
Praesidenten de Gaulle eine starke Stellung zu verschaffen, setzte man seine
Amtsperiode auf 7 Jahre bei einmaliger Wiederwahl fest und gab ihm den
Vorsitz im Ministerrat. Seither hat Frankreich de facto zwei
Regierungschefs -- einen vom Parlament bestimmten und einen volksgewaehlten.

Silvio Berlusconi versucht sich genauso wie damals de Gaulle eine Verfassung
auf den Leib zu schneidern. Sollte er seinen Entwurf durchbringen (was
moeglicherweise einer Volkabstimmung bedarf), gaebe ihm dies noch mehr Macht
in die Hand. Das Parlament frisst ihm ja sowieso schon aus der Hand, doch
koennte er mit dieser Verfassungsaenderung z.B. auch ihm unliebsame Minister
auszutauschen und andererseit auch einen Herrn Bossi dazu zwingen, die
Koalition aufrecht zu erhalten -- 1994 hatte ja genau so ein Koalitionsbruch
die erste Regierung Berlusconi gekippt.

Das hiesse aber auch, dass die Regierung nicht mehr das "Vertrauen" des
Parlaments haben muss, um zu regieren. Damit kaeme es zu einer Entkopplung
der beiden Gremien -- und jetzt wirds spannend: Einem Berlusconi passt
dieser Anzug -- fuer ihn, den Herrn ueber Regierung, Parlament, Medien und
das groesste Privatvermoegen des Landes, bedeutet es die totale Macht in den
nationalen Kompetenzen Italiens. Aber was ist, wenn Herr Berlusconi nicht
mehr Premier ist, sondern wie einstmals Bettino Craxi als Justizfluechtling
seinen Lebensabend in Tunis verbringt? Und diese Tage werden kommen, auch
wenn es der derzeitige Premier sich heute noch nicht vorstellen kann. Dann
wird es moeglicherweise zu einem aehnlichen Paradoxon kommen, wie wir es in
Frankreich nach de Gaulle erlebt haben. Dort ermoeglichte das Anstreben
eines autoritaeren Fuehrungsstils dem Volk, die "Cohabitation" zu waehlen:
Eine Regierung, die sich mit einem Oberministerpraesidenten aus einer
anderen Partei zusammenraufen muss, tut sich halt mit dem "Drueberfahren"
schwerer. Berlusconis Verfassung koennte ebenfalls zu einer Verbesserung der
"check and balances" in Italien fuehren -- da die Regierung nicht mehr vom
Parlament abhaengig waere, waeren auch nicht mehr unbedingt die Fuehrer der
Mehrheitsparteien in Ministeraemtern. Umgehrt waere die Abhaengigkeit des
Parlaments -- wie wir sie in Oesterreich so gut kennen und derzeit von den
angeblich so dissidenten FPOe-Abgeordneten, die dann doch zu allem ja und
amen sagen, musterhaft vorgefuehrt bekommen -- ploetzlich dahin. Die Parlame
nte koennten dann Dinge beschliessen, die der Regierung nicht taugen. Auf
einmal erschiene so etwas wie eine echte Trennung der Gewalten greifbar...

Womit wir eben im ganz Kleinen waeren: in Oesterreich. Dass Oesterreich
einen Sauhaufen seine Verfassung nennt, ist altbekannt -- eine
unueberblickbare Unzahl von Extragesetzen und Verfassungseinzelbestimmungen,
die zum Teil einfach einer Laune rotschwarzer oder schwarzroter
Zweidrittelmehrheiten entstammten, ueberwuchern das eigentliche
Bundesverfassungsgesetz. Inhaltlich sind diese Grundlagen des Staates
weniger auf Hans Kelsen zurueckzufuehren sondern es ist eher eine
Gemengelage von weitergeschriebenen oktroyierten k.u.k.-"Verfassungen",
revolutionaeren Bestrebungen von 1919, Interessenspolitik in der
Zwischenkriegszeit, austrofaschistischen Verfassungsversuchen und
schliesslich wieder Interessenspolitik in der Zweiten Republik. Ein neuer
Entwurf, ueber den derzeit unter geringer medialer Anteilnahme diskutiert
wird, waere da schon ganz gut -- fraglich ist dabei allerdings, ob das in
Zeiten einer reaktionaeren Regierung, einer systemkompatiblen
parlamentarischen Opposition und einem fast voelligen Fehlen
fortschrittlicher Basisbewegungen wirklich so eine gute Idee ist.
Exemplarisch dafuer ist die Debatte um das Amt des Bundespraesidenten. Herr
Khol und Frau Glawischnigg sind sich einig, dass das dieses Amt entweder
entwertet oder ganz abgeschafft werden sollte. Gut, politisch sinnvoll ist
dieser Notfallsdiktator ohne Alltagsmacht wirklich nicht, aber was waere die
Konsequenz? Gar kein volksgewaehlter Repraesentant von Bedeutung und alle
Macht dem Parlament? Das wuerde offiziell festschreiben, was derzeit schon
Realverfassung ist und Politiker doch so lieben: Den reibungslosen Apparat
von Exekutive und Legislative, wo alle eines Sinns sind, und man zwecks
einer effektiven Kontrolle nur mehr auf den Verfassungsgerichthof hoffen
darf, waehrend die in der engeren Bedeutung des Wortes politischen Instanzen
gleichgeschaltet sind.

Dass aber ausgerechnet ein Gerichtshof, dessen Zusammensetzung am
allerwenigsten demokratisch legitimiert ist, zwischen den
Alle-vier-Jahre-Kreuzerlmachen der einzige Bremsklotz einer zu allem
entschlossenen Regierung ist, kann ja wohl nicht die Krone des
republikanischen Gedankens sein. Verfassungsreform? Ja, aber bitte nicht
einen Konsens von schwarzen, roten, blauen und gruenen Apparatschiks,
sondern ein bisserl ganz anders! Zu nennen waeren da beispielsweise eine
Trennung der Gewalten, ernstzunehmende plebiszitaere Einflussnahme, eine
Staatszielbestimmung (Stichwort: Sozialstaat) und eine offizielle Aufnahme
der Medien als Vierte Gewalt und damit einer Grundlage fuer ein
entsprechendes Kartellrecht, um tatsaechlich sowas wie Meinungsvielfalt
herzustellen, ohne die jeder demokratische Anspruch nur als Farce gesehen
werden kann.

Es gilt unserer classe politique klarzumachen, dass es in einer
Verfassungsdebatte nicht darum gehen darf, ihnen das Leben leichter zu
machen. Denn das Wesen einer guten Verfassung ist es nunmal nicht, das Oel
im Staatsgetriebe zu sein, sondern der Sand.
*Bernhard Redl*



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