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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 12. November 2002; 14:23
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Tuerkei:

> OeVP auf muslimisch

Ausgerechnet von denen, die einst dem politischen Islam anhingen, koennte
ein Demokratisierungsschub ausgehen.

Die politischen Entwicklungen in der Tuerkei haben in Europa schon immer
fuer Verwirrung gesorgt. So auch jetzt: Eine Partei gewinnt die Wahlen
haushoch, und das Raetselraten beginnt. Wie soll man die «Gerechtigkeits-
und Entwicklungspartei» AKP etikettieren: «islamistisch», «gemaessigt
islamistisch», «fundamentalistisch»? Solche Fragen treiben AKP-Chef Recep
Tayyip Erdogan zur Verzweiflung: «Wir sind keine islamistische Partei, keine
gemaessigt islamistische Partei, keine muslimische Partei. Wir sind eine
konservativ-demokratische Partei.» Doch entspricht die Selbstetikettierung
der Wahrheit? Oder ist Erdogan der Wolf im Schafspelz, der die saekulare
Republik in einen Gottesstaat umformen will?

Die tuerkischen Zeitungen sprechen von einem Erdbeben. Keine der
buergerlichen Parteien, egal ob mit linkem oder rechtem Anstrich, ist mehr
im Parlament vertreten. Einzige Oppositionspartei wird die
sozialdemokratische Republikanische Volkspartei sein, die im letzten
Parlament nicht vertreten war.

In der Geschichte der tuerkischen Republik gab es bislang zwei politische
Erdbeben, die hoechst aufschlussreich fuer die Entschluesselung tuerkischer
Politik sind. 1950 der ueberwaeltigende Wahlsieg der Demokratischen Partei.
Bei den ersten wirklich freien Wahlen, beim Uebergang zum
Mehrparteiensystem, waehlten die TuerkInnen die Repraesentanten des
kemalistischen Einparteiensystems ab. Das zweite Beben erfolgte 1983. Die
Putschgeneraele wollten zwei Parteien zulassen. Einer Partei war die Rolle
der Regierungspartei, der anderen die Rolle der Oppositionspartei zugedacht.
Dank einem Zufall - oder vielmehr der Fehlkalkulation der Militaers - wurde
eine dritte Partei zugelassen. Die Mutterlandspartei des Turgut Oezal trug
einen gewaltigen Sieg davon. In beiden Faellen waren es wertkonservative,
den Kapitalismus preisende Parteien, denen das herrschende politische Regime
nicht wohlgesinnt war. Der Wahlsieg von Erdogan folgt dem gleichen Muster.
Die TuerkInnen waehlen konservativ, und sie waehlen jene, die vom
politischen Regime verfolgt werden.

Erdogan war Mitglied der islamistischen Bewegung unter Fuehrung von
Necmettin Erbakan, wurde 1994 Oberbuergermeister von Istanbul und verbrachte
wegen einer Rede vier Monate im Gefaengnis. Vor den Wahlen versuchte man,
ihm daraus einen Strick zu drehen; er durfte nicht kandidieren und kann
nicht Minis- terpraesident werden. Theoretisch koennte seine Partei vom
Verfassungsgericht verboten werden. Doch die Partei verfuegt fast ueber eine
Zweidrittelmehrheit der Sitze, beinahe genug fuer Verfassungsaenderungen.
Das repressive Korsett der Militaers hat sich selbst ad absurdum gefuehrt.
Die 10-Prozent-Huerde sollte KurdInnen und Islamisten vom Parlament
fernhalten.

Der Aufstieg der AKP zur treibenden politischen Kraft ist nicht nur Ausdruck
des Zersetzungsprozesses der korrupten, buergerlichen Parteien, sondern auch
Ausdruck der Transformation des politischen Islam. Die Partei von Necmettin
Erbakan, der den traditionellen politischen Islam verkoerpert, erhielt
gerade 2,5 Prozent. Doch den AKP-Kadern und ihren WaehlerInnen geht es nicht
um Religion. Die neuen AKP-Abgeordneten sind anatolische Kapitalisten, die
gute Verkehrsverbindungen fordern. Ihre WaehlerInnen sind die Opfer der
Wirtschaftskrise, die Arbeit und Brot verlangen.

Dennoch ist die religioese Haftung entscheidend. In Deutschland hatte
zurzeit der Weimarer Republik die Zentrumspartei (im Gegensatz zur CDU in
der Nachkriegsgeschichte) nie die Chance, staerkste politische Kraft zu
werden; sie blieb die Partei des deutschen Katholizismus. Bei der CDU wurde
die christliche Religion als Bezugspunkt immer schwaecher. Ein aehnlicher
Prozess vollzieht sich in der Tuerkei. Teile des AKP-Personals und der
WaehlerInnen moegen fromm sein, doch sie wollen kein religioeses
Koordinatensystem in der Politik errichten. Ihnen geht es um Steuersaetze
und Energiepreise. In der Tuerkei koennte sich mit fuenfzigjaehriger
Verspaetung ein Normalisierungsprozess vollziehen. Der Islam nicht als
politische Regimealternative, sondern als kulturelles Beiwerk in einer
kapitalistischen Demokratie.

So ist denn nach den Wahlen viel von Privatisierung und Deregulierung die
Rede. Davon, dass man unbedingt die Verpflichtungen gegenueber dem IWF
einhalten und den Haushalt sanieren werde, dass man die Steuern senken
wolle. Mit einer ausgesprochen prowestlichen, europafreundlichen
Programmatik zog Erdogan in den Wahlkampf. Den Konflikt mit dem Militaer
will er nicht riskieren. Er hat auch nicht vor, die saekulare Verfassung zu
beseitigen. Wenn er verspricht, die durch die Verfassung von 1983
eingeschraenkten Grundrechte und Freiheiten zu erweitern, folgt er dem
Wunsch der Bevoelkerungsmehrheit. Das koennen Sozialdemokraten schlecht
ablehnen; Oppositionsfuehrer Deniz Baykal hat bereits «konstruktive
Opposition» angekuendigt. *Oemer Erzeren, Istanbul, WoZ, 7.11.2002*



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