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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 15. Oktober 2002; 13:53
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Deutschland:

> Alles Super in der Sozialdemokratie?

Jetzt hat auch Gerhard Schroeder seine Liebe fuer die Zusammenlegung der
Ministerien fuer Wirtschaft und Arbeit entdeckt. Der Minister ist danach.

Ein leises Beben im Raum, wo immer man dieser Tage auf SozialdemokratInnen
trifft, in Paris, Berlin oder Kopenhagen, die zitternde Ahnung eines
Gedankens, und kurz hofft man, sie koennten bemerkt haben, dass sie gerade -
ueberfluessig wie ein gebrochenes Versprechen - aus der Geschichte fallen,
dass ein soziales Froesteln die BuergerInnen plagt, dass der wild gewordene
Kapitalismus die Sozis ueberrollt hat und platt macht, dass sie sich regen
muessten, soll nicht eintreten, was der franzoesische Genosse Manuel Valls
formuliert: «Bieten wir jetzt keine politische Alternative an, wird sie
anderswo gebaut, rechts von rechts.»

Fluechtige Momente. Sobald sie reden oder handeln, ist alles wie gehabt:
Sozialliberale Plattitueden, wortreiche Leere weitab von der wirklichen
Gesellschaft, Postenschacher. In Berlin macht dieser Tage ein haessliches
Wort Furore: super. Franzosen soupieren, Deutsche supern. Einfach super, die
Stimmung in den Regierungsgespraechen zwischen Sozialdemokraten und Gruenen.
Super-Ideen am Laufmeter. Etwa die Bestellung eines Super-Ministers an der
Spitze eines Super-Ministeriums fuer Wirtschaft und Arbeit.

Fuer diesen Posten holte Bundeskanzler Gerhard Schroeder («eine
weitreichende Massnahme») seinen alten Kumpan Wolfgang Clement, bisher
Regierungschef in Nordrhein-Westfalen. Wie ein Ertrinkender warf sich der
sichtlich mitgenommene und gealterte Schroeder vor der Presse Clement an den
Hals. Der Super-Minister soll schnell richten, was Schroeder nicht geschafft
hat: die Minderung der Arbeitslosigkeit, vielleicht gar deren Halbierung auf
zwei Millionen, wenn die Plaene des VW- Managers Peter Hartz greifen. Der
hatte im Sommer, rechtzeitig zur Wahl, eine rabiate Vorlage fuer eine neue
Arbeitsmarktpolitik geliefert: «Wir haben die Bibel zum Arbeitsmarkt.»
Knappe, grimmige Lektuere: Die Konzerne werden kaum neue Arbeitsplaetze
schaffen, der Arbeitslose ist ohne Job, weil er sich nicht genuegend mueht,
also muss man massiv Druck auf die Arbeitslosen machen, irgendwelche Jobs
anzunehmen, und kleinere und mittlere Unternehmen, Vereine, Private dazu
anhalten, die eine oder andere Stelle anzubieten. Zu diesem Behufe «muessen
jetzt alle ran», vorab die «6,1 Millionen Profis der Nation», Politiker,
JournalistInnen, Manager, UnternehmerInnen, Gewerkschaftsfunktionaere,
Geistliche, Wissenschaftler. Fuer jede dieser Gruppen hat Hartz «einen
Masterplan entwickelt, ihnen Aufgaben zugedacht». TV-Leute etwa sollen
«Ideenwettbewerbe», Arbeitslosenshows inszenieren. Kaum ernannt drohte
Clement, er werde den Plan «eins zu eins» umsetzen. Im Herbst schon.

Das Vorhaben mag ein paar hunderttausend Menschen kurzfristig in prekaere
Jobs mit Vertraegen auf Zeit bringen, teils zu Niedrigstloehnen. Aber es
schafft unter jenen, die ihre Haut auf einen deregulierten Arbeitsmarkt
tragen, Unsicherheit, soziale Kaelte, Druck.

Mit dem Hartz-Plan zeigt die SPD ihre Kapitulation vor der Macht des
Marktes. Erst gar nicht erwogen hat Schroeder eine andere Politik, die
Arbeit und Kapital zugleich die Lasten der Reformen aufbuerden wuerde. Eine
solche entworfen hat etwa die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik
«Memorandum». Auf dieses und aehn- liche Papiere werden die Gewerkschaften
ihren Widerstand bauen. Vor der Wahl hielten sie still. Jetzt wollen IG
Metall und die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi per Bundesratsinitiative
eine Reichtumssteuer erzwingen, um dem Staat, dessen Kassen leer sind,
Mittel fuer Investitionen zu verschaffen. In keiner grossen Industrienation
ist das Vermoegen so gering besteuert wie in Deutschland. Dank rot-gruener
Steuerreform entziehen sich die meisten Konzerne ohnehin laengst der
deutschen Gesellschaft. Eine maessige Reichtumssteuer koennte der Kanzler
hinnehmen. Im stillen Tausch allerdings gegen die Deregulierung des
Arbeitsmarktes. Die Gewerkschaften melden Widerstand an, drohen mit Streiks.

Fuer dieses Kraeftemessen ist Super-Minister Clement, 62, der richtige Mann,
die eiserne Faust, ein Signal an die Partei. Schroeder lobt seine «soziale
Sensibilitaet». Aber die Arbeitgeberverbaende taeuschten sich nicht, als sie
am Montag die Ernennung des «hochkompetenten geschaetzten Gespraechspartners
Clement» feierten. In Nordrhein-Westfalen war er ihnen stets zu Diensten,
mit Hochtechnologieprojekten, uferloser Wirtschaftsfoerderung, der
Magnetbahn Metrorapid, dem Kampf gegen die Oekosteuer, gegen das Dosenpfand,
fuer die Forschung mit embryonalen Stammzellen oder die Einfuehrung von
Studiengebuehren. Fast alle Projekte scheiterten. Die Gruenen aber (Clement:
«Eine Plage Gottes») hielt er am Gaengelband, mitunter mit harschen Toenen.

Dies ist die andere Nuetzlichkeit Clements fuer Schroeder. Der Kanzler
braucht einen Mann im Kabinett, der den Wahlsieger Joschka Fischer abnuetzt,
baendigt, erschoepft. Hinter der Fassade der «Super-Stimmung» wogt der
Streit um das Regierungsprogramm. Am Dienstag eskalierte er um die Frage der
Besteuerung von Ehegatten und der Kompetenzen des gruenen Umweltministers
Juergen Trittin. Der wollte die Energiepolitik in sein Ressort holen,
Clement trat ihm entgegen: «Ich bin nicht gekommen, um etwas abzugeben,
sondern um etwas zu kriegen.» Beim Niedriglohn setzten sich die
Sozialdemokraten ebenfalls durch, im Gegenzug duerfen die Gruenen hoffen,
dass sich die Bundesregierung fuer die Tobin-Steuer einsetzt und die
Abschaffung der Wehrpflicht prueft.

Da zeigt sich Schroeders Blaupause. «Schroeder rueckt nach links»,
kommentierte der «Stern»; der stellvertretende Chefredaktor Hans-Ulrich
Joerges erkannte «eine fundamentale Kurskorrektur. Vorbei die neoliberalen
Experimente jenseits der Ideologien; Rot und Gruen kennen wieder oben und
unten.» Er schrieb das vor der Ernennung Clements, und die meisten
Steuerideen sind seither vom Tisch. Inzwischen klaert sich das Programm des
Kanzlers: links reden, aber bei allen essenziellen Themen (Wirtschaft und
Soziales) rechts handeln. Damit ist er in guter Gesellschaft mit einigen
europaeischen Regierungen, etwa Jacques Chiracs rechter Koalition in Paris.
Unterschiede sind schwer auszumachen.

Ob Rhetorik reicht, um das sozialdemokratische Modell zu retten, daran
zweifeln immer mehr Genossen. Am Donnerstag hat der abgewaehlte daenische
Regierungschef Poul Nyrup Rasmussen linke DenkerInnen nach Kopenhagen
gebeten. In einem langen Text kritisiert er das mangelnde Gehoer und die
Machtlosigkeit der Sozialdemokraten. Rasmussen traeumt von einem
«Kopenhagener Prozess»: dem Wiederauferstehen der Sozialdemokratie,
solidarischer, innovativer, schlagkraeftiger. Mag sein, aus dem leisen Beben
wird Bewegung. *Oliver Fahrni, WoZ, 10.10.2002*


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