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Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 15.01.2002
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Argentinien:

> Der oekonomische GAU
Ein weiteres IWF-Modell ist gescheitert. Und die Bevoelkerung des
Landes vertraut niemandem mehr.

von *Carlos Gabetta*, Chefredakteur von "Le Monde Diplomatique", Edition Cono Sur, Buenos Aires
Argentinien ist explodiert. Manche Beobachter waren ohnehin erstaunt, dass eine Gesellschaft mit so langer kaempferischer Tradition und einem so hohen politischen und gewerkschaftlichen Organisationsniveau so erstaunlich passiv geblieben ist. Frueher rebellierten die Argentinier bei viel geringeren Anlaessen als der unertraeglichen Situation, der sie in juengster Zeit ausgesetzt sind: Die Arbeitslosenrate liegt bei 20%, 14 Millionen von 37 Millionen Argentiniern leben unterhalb der Armutsgrenze, die Kaufkraft ist in den letzten 5 Jahren um fast 50% gesunken.
Bis zum 19.Dezember 2001, an dem zehntausende Buerger spontan auf die Strasse gingen, schien die Gesellschaft jedoch wie betaeubt zu sein - ausserstande, ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen. Mit der Erinnerung an die blutige Militaerdiktatur (1976 bis 1983), das Fiasko des Falklandkrieges 1982 und die traumatische Hyperinflation von 1989 liessen sich die Buerger von einer politischen Fuehrung erpressen, die ihnen mit der "Rueckkehr der Vergangenheit" - also mit Diktatur und wirtschaftlichem Zusammenbruch - drohte, waehrend sie weiter Punkt fuer Punkt genau das neoliberale Modell umsetzte, fuer das die Generaele damals die Weichen gestellt hatten.
Es wird haeufig vergessen, dass unter diesem nicht legitimierten Regime - das mehr als 30.000 Menschenleben auf dem Gewissen hat - die Auslandsverschuldung von 8 Milliarden auf 43 Milliarden Dollar angestiegen ist, womit das Land in eine teuflische Spirale geriet. Damals boten der "schmutzige Krieg" (gegen die Gegner der Diktatur) und die Doktrin der nationalen Sicherheit das geeignete Umfeld fuer die Vorbereitung des spaeteren Strukturanpassungsprogramms. Staatschef General Videla, Wirtschaftsminister Martinez de Hoz, ein hoher Beamter des Internationalen Waehrungsfonds im Dienste des Regimes namens Dante Simone sowie der Praesident der Zentralbank, Domingo Cavallo, zaehlten damals zu den Hauptakteuren.
Um die Hyperinflation zu bekaempfen wandte sich die Regierung des Peronisten Menem im Jahre 1991 an besagten Domingo Cavallo. Mit dem Segen der internationalen Finanzlobby, der Verfechter einer "wirtschaftlichen Revolution", deren Reformen zu den radikalsten des Subkontinents zaehlten, setzte Cavallo die Anweisungen der Washingtoner Experten rigoros um: Abbau des oeffentlichen Sektors durch Freisetzung von hunderttausenden Beamten, umfassende Privatisierungen, Libralisierung der Wirtschaft und des Aussenhandels, Anhebung der Zinssaetze. Cavallo war auch der Erfinder des Konvertibilitaetssystems, also der festgeschriebenen Paritaet von Dollar und Peso, die sich als Hemmschuh fuer die Exporte herausstellte.
Argentinien erlebt nun das vierte Jahr der Rezession, tausende Unternehmen sind in Konkurs gegangen, und die anderen, die sich noch ueber Wasser halten koennen, sind in technologischer Hinsicht hoffnungslos in Rueckstand geraten.
Als Fernando de la Rúa am 24.Oktober 1999 zum Praesidenten einer Mitte-Links-Regierung gewaehlt wurde, war die Demokratie nur noch eine elegante Fassade fuer das Musterland des Neoliberalismus, das von einem unvorstellbar korrupten Verwaltungsapparat regiert wird. Am 20.Maerz 2001 wurde Cavallo als Architekt des "Wunders" der 90er-Jahre von de la Rúa erneut ins Amt des Finanzministers berufen, und vom Parlament mit Sondervollmachten ausgestattet. Drei Monate spaeter liess er das "Gesetz ueber ein Null-Defizit" verabschieden, das den radikalen Abbau der Staatsschulden garantieren sollte. Damit wurden unter anderem die Beamtengehaelter und bestimmte Altersrenten im Juli um 13% gekuerzt. Der Haushaltsentwurf fuer das Jahr 2002 sieht eine Verringerung der Staatsausgaben um 18,6% - das sind 9,2 Milliarden Dollar - gegenueber dem Jahr 2001 vor.
Aber die Argentinier scheinen nach dieser Kampfansage wieder ihren Selbsterhaltungstrieb entdeckt zu haben. Ihre Massenproteste erzwangen zunaechst den Ruecktritt des verhassten Finanzministers und anschliessend der gesamten Regierung. Schliesslich musste auch Praesident de la Rúa am 20.Dezember 2001 seinen Hut nehmen.
*Ohne politische Institutionen*
Der Aufstand begann, als Tausende verzweifelte Erwerbslose - die zum groessten Teil schon seit Jahren ohne Beschaeftigung und ohne jede oekonomische und soziale Absicherung dastehen -, Supermaerkte und Geschaefte pluenderten, um sich mit den noetigsten Lebensmitteln einzudecken. Nachdem der Praesident in einer ziemlich absurden Rede beteuert hatte, die Protestkundgebungen seien von den "Feinden der Republik" angezettelt worden, veranstaltete der verarmte Mittelstand in allen Stadtvierteln und ueberall im Lande seine sogenannten "cacerolazos", lautstarke Kochtopfdemonstrationen. Danach stroemten sie spontan, wie schon die ersten Demonstranten, auf die Strassen und versammelten sich auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires und vor den Regierungsgebaeuden in den einzelnen Provinzen.
Der bemerkenswerte Unterschied zu frueheren Protesten besteht darin, dass die Argentinier nicht nur das Wirtschaftsmodell, sondern die gesamte politische und gewerkschaftliche Fuehrung ablehnen, mit sehr wenigen Ausnahmen, wie etwa die Central de los Trabajadores Argentinos (CTA). Waehrend sie frueher den Streikaufrufen folgten und in geordneten Reihen unter den Bannern ihrer Gewerkschaften und politischen Organisationen demonstrierten, gingen sie diesmal ganz spontan als einfache Buerger auf die Strasse. Bei den Kundgebungen fehlten ausser der Nationalflagge alle anderen Fahnen, und zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert sogar die grossen peronistischen Trommeln. Die wenigen Politiker, die sich der Menge anschliessen wollten, wurden ausgebuht. Schliesslich schafften es Hunderte von Demonstranten, in das Gebaeude des Kongresses einzudringen und das Mobiliar anzuzuenden.
Indem die soziale Rebellion auch dem am 19.Dezember verhaengten Ausnahmezustand trotzte, verwandelte sich die Wirtschaftskrise auch in eine politische Krise, die leicht zu einer institutionellen Krise fuehren kann. Argentinien steht am Ende einer Epoche - in einer historischen Situation, die freilich keinerlei Zukunftsperspektiven bietet. Die Gesellschaft will die umfassende Korruption des oeffentlichen Lebens ganz offensichtlich nicht mehr hinnehmen. Sie hat eine Fuehrungsschicht satt, die seit einem Vierteljahrhundert im Luxus lebt, weil sie die Pfruenden, die ihr von den Grossbanken, den multinationalen Konzernen und den globalisierten Machtzentren gewaehrt werden, unter sich aufteilen kann. Und dieses Land gilt als Musterschueler des internationalen Waehrungsfonds: 90% seiner Banken und 40% seiner Industrie sind in den Haenden auslaendischer Unternehmen. Die Folgen sind katastrophal.
Seit Beginn der Siebzigerjahre sind die Auslandsschulden von 7,6 auf 132 Milliarden US$ angestiegen (nach manchen Schaetzungen haben sie sogar schon 155 Milliarden US$ erreicht), ganz zu schweigen von den 40 Milliarden US$, die bei Privatisierungen an den Staat geflossen und einfach versickert sind. Die Arbeitslosigkeit ist waehrenddessen von 3% auf 20% gestiegen, die Anzahl der Menschen, die in extremer Armut leben, wuchs von 200.000 auf 5 Millionen, die der unterhalb der Armutsgrenze Lebenden von 1 Million auf 14 Millionen, und die Analphabetenquote stieg von 2 auf 12%, der funktionale Analphabetismus von 5 auf 32%.
Die Vermoegen fuehrender Politiker, Gewerkschafter und Grossunternehmer, die in diesem Zeitraum ins Ausland verschoben wurden, werden auf 120 Milliarden US$ geschaetzt. Argentinien als Musterschueler des Neoliberalismus stellt demnach ein umfassendes Schulbeispiel dar - im Hinblick auf die verheerenden sozialen Auswirkungen wie im Hinblick auf die unterschlagenen Vermoegenswerte.
Der von Cavallo am 1.Dezember 2001 beschlossene Hold-up brachte das Fass zum Ueberlaufen. Noch vor Jahresende 2001 sollte Argentinien 750 Millionen und bis Jahresende 2002 ueber 2 Milliarden US$ an Auslandsschulden zurueckzahlen. In diesem Sinne verhaengte die Regierung "zur Verhinderung der Kapitalflucht" eine Kapitalverkehrskontrolle: Die argentinischen Buerger sollten pro Woche maximal 250 US$ von ihren Privatkonten abheben duerfen. Diese Massnahme wurde natuerlich erst beschlossen, nachdem die grossen nationalen und internationalen Spekulanten 15 Milliarden US$ ausser Landes geschafft hatten.
Mit anderen Worten: Als letzte Stuetze des Systems sollen die kleinen und mittleren Anleger herhalten, die heimischen Unternehmen, die hinfort nicht mehr frei ueber ihre Guthaben verfuegen durften und jeden Tag mehr vor einer Abwertung zittern muessten, die die Ersparnisse eines ganzen Lebens in Spielgeld verwandeln wuerden. Die Banken nutzen die verzweifelte Lage der Buerger aus, indem sie bei Zahlungen mit Kreditkarten Kommissionen von 40% fuer Peso- und 29% fuer Dollarbetraege fordern und diese Saetze auch noch zu erhoehen gedenken. Mit solchen Massnahmen werden nach den Millionen bereits verarmter Buerger noch weitere Millionen mittelstaendischer Existenzen in den Ruin getrieben.
Die tragische Bilanz des Volksaufstands: 31 Tote, die Opfer der polizeilichen Repression wurden, tausende gepluenderte Geschaefte, einige verwuestete Viertel in den grossen Staedten - und eine fuehrungslose Republik. Nach vier Tagen hektischer Beratung ernannte die Bande politischer Wegelagerer, die sich (von wenigen Ausnahmen abgesehen) als Abgeordnete wie als Senatoren im Kongress breitmachen, den Gouverneur der Provinz San Luis, Adolfo Rodriguez Saá, zum Interimspraesidenten, der bis zu den fuer den 3.Maerz geplanten Neuwahlen im Amt bleiben sollte. Doch auch das Schicksal von Saá war schon nach wenigen Tagen besiegelt. Zum Jahresende wurde er, nach weiteren Demonstrationen in den Staedten, von seiner eigenen peronistischen Partei fallen gelassen. Sein Nachfolger, der Peronist Eduardo Duhalde, musste als erstes die $-Paritaet aufgeben und setzte den Dollarkurs fuer den Aussenhandel und Kapitaltransaktionen auf 1,40 Peso fest. Zudem will er sich in den naechsten drei Monaten um neue Kreditlinien beim IWF bemuehen.
*30er-Jahre-Anklaenge*
W ird die neue politische Fuehrung, zumindest in der ersten Zeit, politische Spaltungen, persoenliche Ambitionen und Interessenkonflikte vermeiden und damit ein Minimum an politischer Reputation gewinnen? Es wird keine leichte Aufgabe: die Wirtschaft ist ruiniert, und die Gesellschaft hat durch ihre Revolte ihre dringenden Forderungen angemeldet.
Nachdem die politische Fuehrung die Krise des ultraliberalen Modells jahrelang geleugnet hatte, muss sie nun unter schwierigsten Bedingungen dessen Scheitern bewaeltigen: die Devisenreserven, aus denen Cavallo die Aussenschulden bedient hatte, sind praktisch aufgezehrt.
Die Abwertung des Peso spiegelt eine traurige Wirklichkeit wider. Adolfo Rodriguez Saá hatte noch ein ganzes Paket von Sozialmassnahmen verkuendet, die Aussetzung der Schuldendienstzahlungen bekraeftigt und die Einfuehrung einer neuen Waehrung, des Argentino, angekuendigt. Damit hatte er gegen die Abwertung optiert, um die mit hohen Dollarbetraegen verschuldeten Buerger und heimischen Unternehmen nicht noch staerker in Bedraengnis zu bringen. Aber die Paritaet war in Wirklichkeit eine Luftnummer: die Banken verkauften schon laengst keine Dollar mehr, und auf der Strasse musste man fuer einen Dollar zwei Peso hinlegen.
Die politische Krise hat die Gefahr sichtbar gemacht, dass es zu anarchischen Verhaeltnissen kommen koennte. Um das Schlimmste zu verhindern, muss die neue Fuehrung waehlen: vertritt sie multinationale Interessen, wie sie es bisher stets getan hat, muss sie sich auf einen neuen Volksaufstand gefasst machen. Manche Beobachter verweisen beunruhigt auf die Aehnlichkeit der Lage mit der grossen Depression der Dreissiger Jahre und deren Folgen fuer die Weimarer Republik. Angesichts der juengeren Geschichte Argentiniens scheint der Vergleich gar nicht so uebertrieben zu sein: die Niederlage im Falkland-Krieg, die Jahre der Enttaeuschung, die schwindende Glaubwuerdigkeit der Volksvertreter, der Vertrauensverlust der Institutionen, das Fehlen jeglicher Zukunftsperspektiven, die weltweite Krise: all das hat mit der Zeit zu einem Machtvakuum gefuehrt, das sich mit einem autoritaeren Regime auffuellen koennte. Dann waere erneut die Stunde der politischen Abenteurer gekommen.
(Ue: Andrea Marenzeller, Le Monde Diplomatique Jaenner 2002 / gek.)

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