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Aussendungszeitpunkt:  Dienstag, 18. September 2001 17:04;
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USA:

>Letter from N.Y.
Brief eines oesterreichischen Studenten an der Columbia Universitaet in New York

Liebe Nicht-AmerikanerInnen, ich will Euch nichts erzaehlen ueber Dinge, die Ihr
ohnehin in den Nachrichten serviert bekommt, und die in Europa wahrscheinlich
"informativer" sind als hierzulande, seit die Nachrichtensendungen nicht mehr unter
das Thema "America under attack" gestellt sind, sondern "America United". Die New
York Times druckte in der heutigen Sonntagsausgabe auf der letzten Seite ueberhaupt
nur eine USA-Flagge ab. Ich habe keine Lust mehr, mir solche Sendungen anzusehen oder
Zeitungen zu kaufen, die ihre Auflage mit den Buchstaben W-A-R steigern, von Zeit zu
Zeit blicke ich immerhin auf die ORF-online-Seiten...

Die Patriotismuswelle ist unglaublich, sie praegt das Strassenbild und die
oeffentliche Meinung, die Parkbankgespraeche im Central Park ("I tell you: religious
fanatism is the cause of 99 per cent of what's going wrong in the world"). In absolut
jeder Strasse wehen Stars & Stripes von den Haeusern, normale PKWs, Taxis, teilweise
sogar Polizeiwagen rasen mit grossen und kleinen USA-Flaggen ueber den Broadway,
Flaggen sind an Rucksaecken befestigt, an Fahrraedern, an Zwergpinschern ...
Allgegenwaertig sind auch die kleinen Ansteck-Baender (nach dem Vorbild der
AIDS-Solidaritaetsbewegung) als Zeichen von - zumindest - Solidaritaet, aber auch von
Nationalismus: So lagen hunderte derartige "Ribbons" auch hier im International House
zur freien Entnahme auf, unter dem Motto: "Nimm ein Band, und trag es mit Stolz". Der
Platz vor der Feuerwehrstation in der 83. Strasse ist mit Blumen und Kerzen
uebersaet.

Von einer Reihe von Vorfaellen gegen arabisch aussehende Menschen habt Ihr sicher
schon gehoert, und auch manche Orientalen im "International House" [Anm. ein
Studentenheim] ziehen es derzeit vor, keine Ausfluege in andere Stadtteile zu machen,
waehrend einige der Amis im Haus ihre Zimmertueren mit nationalen Symbolen
zupflastern, wie etwa Kirsten aus SanDiego, zwei Tueren weiter. Tracey aus Texas,
eine andere Stockwerksnachbarin, mit der ich mich ansonsten recht gut versteh', hat
ein weiteres Argument pro Todesstrafe. Jeff, der an der Columbia Journalismus
studiert, zeigt am Gang selbst geschossene Bilder vom Dienstag; er hat sich gegen den
Strom der Richtung Uptown fluechtenden Menschen durchgekaempft und dabei ganz auf
Kriegsberichterstatter die Polizeisperren ueberwunden. Heute waere er dafuer fast von
einem russischstaemmigen Shop-Besitzer verpruegelt worden, als er die Kamera zueckte,
um die riesige Flagge ueber dem vergammelten Antiquitaetenladen zu fotografieren.

Sanja aus Belgrad macht eine besonders schwere Zeit durch, sie hat zuletzt die
NATO-Intervention im Kosovo miterlebt und ueberlebt und konnte sich am Freitag bei
einer Versammlung der internationalen Law Students den Vortrag einer Psychologin des
Columbia Health Centers anhoeren, wonach akute Traumata haeufig dazu fuehren, dass
auch fruehere Traumata wieder an die Oberflaeche kommen. Alain aus Italien war von
den internationalen Jus-Studenten am direktesten betroffen: Er hatte seine Wohnung
unmittelbar neben dem WTC und war die ganze Woche schwer angeschlagen, immer wieder
von Weinkraempfen geschuettelt ("I had to run over dead bodies ..."). Seine Wohnung
ist praktisch zerstoert, wenigstens aber bietet die Columbia University
Notunterkuenfte fuer Betroffene an, auch unter den Studenten selbst ist die
Hilfsbereitschaft gross. In einem der Nebengebaeude des WTC hatte die Deutsche Bank
ihr Hauptquartier, bei der einige I-House-Bewohner ein Praktikum absolvieren, so auch
die Elisabeth aus Graz, die seit ihrer Flucht ebenfalls ziemlich angeknackst ist. Die
Praktikanten werden jetzt vermutlich heimgeschickt, die wenigen brauchbaren Bueros
werden fuer "wichtigere" Mitarbeiter benoetigt, derweil angeblich bereits um
Mietvertraege fuer neue Bueroraeume in New Jersey verhandelt wird.

Manche der "Betroffenen" klagen ueber Schlaflosigkeit, die Mehrzahl der Leute hat
dagegen eher ein gesteigertes Schlafbeduerfnis, auch ich zaehle mich zu dieser
Gruppe. Der Prozess der Verarbeitung kostet reichlich Energie.

Trotz allem schreitet die Rueckkehr zum "Alltag" weiter fort. Der Fluglaerm ueber New
York City stammt nicht mehr ausschliesslich von F-16-Jagdfliegern. Der
Strassenverkehr nimmt allmaehlich wieder seinen Platz als hauptverantwortlicher
Luftverpester ein, U-Bahnen zirkulieren fast ueberall in Manhattan. Am Montag wird
auf der Uni wieder das uebliche Programm gefahren, manche Professoren sind schon in
Sorge ueber die "verlorenen" Unterrichtsstunden und kuendigen Extratermine an. Die
fuer vergangenen Freitag angesetzte Pruefung im Einfuehrungskurs wurde auf diesen
Freitag verschoben, und am Dienstag laedt Frau Prof. Damrosch ihre
Voelkerrechts-StudentInnen zum Lunch ein. Nehmt es als ein gutes Zeichen, dass ich in
diesen Tagen immerhin meinen Appetit nicht verloren habe... *Stefan* (uebermittelt
von quintessenz.at / gek.)

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