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Aussendungszeitpunkt: 19. Juni 2001 -16:16
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Schule I/Kommentar:

> Schlimm ist nur die Debatte
Zur Diskussion um die "Verhaltensvereinbarungen"

Die Schueler werden immer schlimmer und immer duemmer, ein Ende
der Talfahrt ist nicht absehbar. Zumindest gegen "schlimmer" hat
Oesterreich jetzt etwas gefunden und ich bin sicher gegen duemmer
wird sich auch noch etwas machen lassen.

Gegen schlimmer helfen ab sofort Verhaltensvereinbarungen des
Schulforums bzw. des Schulgemeinschaftsausschusses. Je nachdem,
was Lehrer und Eltern einer Schule schlimm finden, es wird
diagnostiziert und geahndet. 3x zu spaet kommen =1x nachsitzen.
Das wird unglaublich helfen, hat schon zu meiner Zeit unglaublich
geholfen, naemlich gar nicht. Uebrigens war natuerlich auch meine
Generation schlimm und dumm zum aus der Haut fahren und die heute
"neuen" Erziehungsmittel gab es damals schon oder besser: Es gab
sie noch, obwohl fortschrittliche PaedagogInnen schon damals der
Meinung waren, dass das nicht hilft. Jede Klasse war ungemein
stolz darauf, die schlimmste Klasse der ganzen Schule zu sein und
noch heute leben Maturatreffen von Gschichtln ueber die besondere
Schlimmheit, an die man sich mit Freude erinnert, weil es so
ziemlich das einzig Attraktive an der ganzen Schulzeit war.
Vielleicht war ja im Eck stehen muessen einmal eine Schande, aber
in meiner Schule war das in den 60er Jahren der Jux des Tages,
eine Auszeichnung die Klassenclowns anstrebten und als Imagegewinn
verbuchen konnten, hiesz doch schlimm sein, sich etwas trauen, was
sich die anderen nicht trauen. Schlimm sein hiesz, riskieren, dass
die Eltern (Vater!) vorgeladen werden, schlimm sein, hiesz zum
Direktor muessen. Schlimm sein, war eine Mutprobe. Schlimm sein,
war der erste Schritt zur Zivilcourage. Nachdem blau-schwarz wohl
kaum eine Zivilcourage-Kampagne einleiten wollen, steckt anderes
dahinter. Aber was?

Die Schule muss wieder strenger werden, so lautet das Credo von
rechts seit Jahren. Einige Schulen wittern seit langem Aufwind und
sind laengst zur Tat geschritten. Eine Pflichtschule in der
Steiermark sanktioniert Schwaetzen mit Zukleben des Mundes. Die
Kosten fuer das Leukoplast uebernimmt der Elternverein. An einem
Vorarlberger Gymnasium muss ein Schueler, der einen Lehrer am Gang
nicht entsprechend grueszt, diesen eine Woche lang vor jederStunde im Lehrerzimmer abholen und ihm die Tasche
tragen, etliche
Schulen fangen Zu-spaet-Kommende beim Schultor ab, sie duerfen
nicht in ihre Klasse, sondern werden in einer eigenen Klasse
beaufsichtigt, geahndet werden Konflikte zwischen SchuelerInnen,
Stoeraktionen, Unpuenktlichkeit, Frechheit u.a. Wie man sieht,
sind Schulen schon bislang keineswegs zimperlich in der Wahl der
Mittel gewesen. Es war also kein neues Gesetz notwendig, um die
sogenannte Ordnung aufrecht zu erhalten. Blau-schwarz geht es nur
um eines: Den Ausschluss von SchuelerInnen aus der Schule.
Schueler, die in Hinkunft ihre Pflichten in schwerwiegender Weise
verletzen und bei denen die Masznahmen der autonomem Schulordnung
erfolglos bleiben, sind von der Schule auszuschlieszen. Darum geht
es.

Uebrigens: Nicht nur schlimmer werden die Schueler. Habt ihr
gewusst, dass sie auch immer duemmer werden? Habt ihr gewusst,
dass das "Schuelermaterial" immer schlechter wird, dass Schueler
immer weniger leisten? Habt ihr gewusst, dass nicht nur neue
Diszipliniermasznahmen geschaffen werden muessen, sondern auch
neue Ausleseverfahren, damit das Niveau in den Klassen nicht
sinkt. Aufnahmepruefungen, schaerfere Notengebung und eine
Hoechstgrenze fuer die Zahl von SchuelerInnen mit nichtdeutscher
Muttersprache wirken Wunder. Die SchuelerInnen muessen wieder mehr
leisten! Der naechste Zug der blau-schwarzen Regierung, die nichts
anderes will als die autoritaere Wende auch in der Schule, ist
bereits bekannt. Nach den Verhaltensvereinbarungen kommt die
Elitenfoerderung. Und Oesterreich wird wieder applaudieren. Mehr
Strenge, mehr Druck, mehr Auslese, das sind die alten und neuen
Rezepte fuer die Schule, die so dringend eine Reform ganz anderer
Art braeuchte.

Es waere schon so viel getan, wuerde Schule nicht hauptsaechlich
langweilen und stressen (Ausnahmen bestaetigen...). Waere es nicht
sinnvoll endlich umzusteigen vom Auswendiglernen und Abpruefen von
Daten und Fakten, die wenige Wochen spaeter ohnehin wieder weg
sind, auf ein System des vernetzten Denkens und eigenstaendig
Arbeitens? Koennte nicht endlich das nachweisbar untaugliche
Notensystem durch andere Formen der Rueckmeldung und Ermutigung
ersetzt werden? Und koennte Schule nicht auch Spasz machen und
tatsaechlich leistungsfoerdernd sein? Und bitte, bitte koennte in
Oesterreich einmal eine bildungspolitische Diskussion stattfinden,
vielleicht auf dem Niveau von Harmut von Hentig*?

Susanne Jerusalem


Fraktionschefin der Gruenen im Kollegium des Wiener
Stadtschulrates



* dt. Paedagoge, Jg. 1923; propagiert u.a. "die Belehrung und
authentische Erfahrungen ermoeglichende Selbstfindung und -
bestimmung gegenueber dem Systemcharakter der Gesellschaft" sowie
das Nahebringen von Kritik und Selbstkritik, um "rationale
Prozesse von irrationalen unterscheiden zu koennen".

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