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Aussendungszeitpunkt: 29.5.2001 -16:08
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Algerien/Kommentar:

>Blutiger Frieden
"Endlich scheint Europa Algerien (...) wieder zu entdecken!" Diese
Einschaetzung Werner Hoyers (deutscher Ex-Staatsminister und
Mitglied des Bundestags), die sicherlich einige Politiker teilen,
sollen eine Wende in Algerien heraufbeschwoeren, die die FAZ mit
weiteren Artikeln zu untermauern versucht: "In weniger als einem
Jahr hat es der neue Staatspraesident Bouteflika geschafft, mit
politischen Masznahmen dem Morden islamistischer Terrorbanden ein
Ende zu setzen". Dieses Fazit beruht auf der lapidaren
Feststellung, dasz Algerien das Jahrzehnt der "Barbarei"
ueberstanden habe und nun ein neues Zeitalter anbrechen wuerde.
Die Politiker und Geschaeftsleute auf beiden Seiten des
Mittelmeeres moechten glauben machen, dasz die Lage unter
Kontrolle sei, die Realitaet allerdings ist eine andere: Das
politische Leben ist vollstaendig lahmgelegt und gekennzeichnet
von fruchtlosen Debatten innerhalb und auszerhalb des Parlaments;
das Gesetz der "zivilen Eintracht", das die Gewalt eindaemmen
sollte, indem Mitgliedern bewaffneter Gruppen unter bestimmten
Umstaenden Straffreiheit gewaehrt werden sollte, hat nicht den
versprochenen Frieden herbeigefuehrt; das Abkommen mit der AIS
(bewaffneter Arm der FIS) ist nichts anderes als ein "Arrangement"
zwischen militaerischen Kraeften, dessen genauere Modalitaeten
unbekannt bleiben; Hunderttausende von Maennern (Milizionaere,
Kommunalgarden...) sind immer noch bewaffnet und mitverantwortlich
fuer die fortdauernde Gewalt; Dutzende von Menschen werden
weiterhin massakriert und erschossen (im Durchschnitt etwa 250
Tote im Monat) usw. Entgegen den Aeuszerungen des Journalisten der
FAZ sorgen bewaffnete Gruppen, deren Identitaet unbekannt und
zweifelhaft ist, weiterhin fuer Angst und Schrecken und die
wirtschaftliche Lage war selten so besorgniserregend. Der einzige
Rettungsring des Regimes sind die Erdoel- und Erdgaseinnahmen.

*Bouteflika: Ein neues Zeitalter bricht an*

Die Haltung der westlichen Regierungen gegenueber der algerischen
ist seit dem Putsch vom Januar 1992 dadurch gekennzeichnet, dasz
sie alle Brueche der Verfassung billigen. Der Kampf gegen eine
islamistische Opposition, die kurzerhand als demokratie- und
pluralismusfeindlich stigmatisiert wurde, legitimierte gegenueber
der Weltoeffentlichkeit einen Krieg, der sich aller erdenklichen
Mittel bedient. Zwar haben westliche Politiker und Medienvertreter
durch Lippenbekenntnisse die Wiederaufnahme des im Januar 1992
unterbrochenen Demokratisierungsprozesses gefordert, doch
gleichzeitig die Zerschlagung der islamistischen Opposition
grundsaetzlich akzeptiert, wenn nicht gutgeheiszen (unter dem
Motto: die "gruene" Gefahr lauert auch hier an allen Ecken). Die
algerischen Militaers, die sozusagen die direkte Macht uebernommen
haben, bemuehen sich zwar, den Schein einer zivilen Regierung zu
wahren, doch wissen sie, dasz ihre auslaendischen Partner die
Maskeraden (Scheinwahlen, Alibi-Opposition, falsche Amnestie,
"zivile Eintracht" usw.) mit "Nachsehen" unterstuetzen. Der damit
faktisch erteilte Freibrief fuer die algerischen Militaers fuehrt
dazu, dasz die noetigen materiellen Mittel zur Verfuegung gestellt
werden (IWF-Kredite, Umschuldungsprogramme, Waffenverkaeufe usw.),
um einen der brutalsten Kriege nach dem Ende des Kalten Krieges zu
finanzieren. So hat selbst waehrend des Hoehepunktes der Massaker
1997 die Lage in Algerien kaum eine oeffentliche Debatte auf
europaeischer oder internationaler Ebene ausgeloest.

Die gravierendsten Menschenrechtsverletzungen konnten von
staatlichen Stellen begangen werden und die gesamte Bevoelkerung
in Mitleidenschaft ziehen, die offizielle Version lautete stets,
es handele sich dabei um Gewalttaten der Terroristen (Massaker,
extralegale Toetungen und "Verschwindenlassen") oder um die
notwendigen Folgen der Terrorismusbekaempfung (z.B. Terroristen,
die auf der Flucht erschossen wurden). Die hiesigen Politiker
begnuegten sich meist mit der offiziellen Erklaerung, ohne sich
den Menschenrechtsorganisation anzuschlieszen, die seit Jahren
Untersuchungen fordern.

*Eine ernsthafte politische Loesung ist nie in Betracht gezogen
worden*

Die algerische Militaerfuehrung und die politische Klasse haben
alle erdenklichen Hebel in Bewegung gesetzt, um die
repraesentative Opposition, die Anfang 1995 (drei Jahre nach dem
Putsch) eine Plattform zur Loesung der algerischen Krise
erarbeitet hatte, mundtot zu machen. Diese Opposition bestand u.a.
aus den drei wichtigsten Parteien, die waehrend des ersten
Wahlgangs 1991 etwa 80% der Stimmen erhalten hatten. Anstatt diese
Initiative tatkraeftig zu unterstuetzen, zumal die FIS (Front
Islamique du Salut) sich den in der Plattform festgelegten
Prinzipien des Gewaltverzichts, der Meinungsfreiheit und des
Machtwechsels verpflichtet hatte, haben die westlichen Regierungen
die diversen Machenschaften der algerischen Militaers, um diese
Opposition zu zerschlagen, kriminalisieren oder marginalisieren,
mit angesehen und geschwiegen. Auch die deutsche SPD, die ebenso
wie die FFS (Front des Forces Socialistes) in der Sozialistischen
Internationale vertreten ist, hat weder die sogenannte "Plattform
von Rom"unterstuetzt noch die FFS gestaerkt. Bis heute folgt die
deutsche Algerienpolitik den alten Beziehungen, die manche SPD-
Persoenlichkeiten bereits waehrend des Befreiungskrieges zu FLN-
Verantwortlichen pflegten, ungeachtet der Tatsache, dasz diese
"alten Freunde" am "totalen Krieg" beteiligt sind.

Die Strategie des algerischen Regimes bestand darin, die
repraesentativen Stroemungen der Opposition durch Parteien ihrer
Wahl zu ersetzen und damit das politische Leben zu kontrollieren.
Die Parteien, die der Oeffentlichkeit als geeignete Opposition
vorgefuehrt wurden (es sei nur die auch hier bekannte RCD
(Rassemblement pour la Culture et la D‚mocratie genannt, deren
Repraesentanten Said Sadi und vor allem Khalida Messaoudi den
Militaers immer gute Dienste geleistet haben) haben nunmehr ihren
eigentlichen Platz oeffentlich eingenommen: in das System, das sie
vorgeben zu bekaempfen.

*Eine diktierte Amnesie anstelle der Wahrheit*

Nun sind sich alle Beobachter darin einig, dasz seit der Wahl
Bouteflikas (auch ein Widerstandskaempfer, der zudem die
algerische Auszenpolitik waehrend der glanzvollen Siebziger Jahre
vertreten hat), ein neuer Wind weht und Algerien sich auf dem
besten Weg zum Frieden sei. Mit einer entwaffnenden Leichtigkeit
und Schlagkraft werden seine Worte mit seinen Taten verwechselt.
Erneut wird darueber hinweggesehen, dasz das Militaer, obwohl
sechs andere Kandidaten zu den Praesidentschaftswahlen 1999
angetreten sind, Bouteflika ernannt hat (die Wahl selbst wurde
einstimmig als eine Farce bezeichnet, das geriet aber bald wieder
in Vergessenheit). Es wird wohlwollend akzeptiert, dasz Bouteflika
sich dem Diktat des Militaers beugt. Hat Bouteflika nicht selbst
deutlich gesagt, es gaebe eine "rote Linie", die er nicht
ueberschreiten wuerde? Und bis heute hat Bouteflika den Generaelen
sehr gute Dienste erwiesen: Algerien hat sich des Makels
international geaechteter Verbrechen vorerst entledigt und niemand
spricht mehr von einer unabhaengigen Untersuchungskommission, die
den Massakern oder anderen Verbrechen des Militaers (und der
bewaffneten Gruppen) nachgehen soll.

Diese Amnesie hat offensichtlich auch die islamistische Opposition
befallen. Der Inhalt des Abkommens zwischen der AIS und dem
algerischen Geheimdienst ist bis heute unbekannt, und es ist eine
Forderung der algerischen Oeffentlichkeit darueber informiert zu
werden. Im Oktober 1997 haben die AIS und andere bewaffnete
Gruppen einen einseitigen Waffenstillstand angekuendigt, dem auf
Regierungsebene die Amnestierung der Mitglieder dieser Gruppen im
Zuge der "zivilen Eintracht" folgte. Darueber hinaus hat dieses
Gesetz den Mitgliedern anderer Gruppen die Moeglichkeit geboten,
sich individuell den Behoerden zu stellen und vor eine
Bewaehrungskommission zu treten, die unter der Voraussetzung, dasz
der "Reumuetige" keine groeszeren Verbrechen begangen hat, diesen
freispricht. Auch hier sind die genaueren Vorgaenge und die Zahl
der Betroffenen nicht bekannt. Besteht der Deal darin, um den Lohn
der Straffreiheit ueber die Verbrechen der Militaers zu schweigen?
Die politische Fuehrung der FIS (Instance Executive) hat
jedenfalls die "concorde civile" begrueszt und aeuszert sich
seitdem nicht mehr dazu. Allerdings scheint diese neue Entwicklung
nicht zu bedeuten, dasz die Sympathisanten und Aktivisten der FIS
keine Verfolgung zu befuerchten haben, wie wir weiter unten
erlaeutern werden. An dieser Stelle ist festzuhalten, dasz dieses
geheime Abkommen keine Aufklaerung der Verbrechen der letzten
Jahren vorsieht indem Untersuchungen angestrengt und die
Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden, sondern, dasz
von allen Seiten ein Schluszstrich gezogen werden soll.

Aber nicht nur Bouteflika und die Islamisten respektieren diese
"rote Linie", sondern die westlichen Politiker und die Medien, ob
in Algerien oder im Westen, ebenso. Es herrscht offenbar
allgemeiner Konsens darueber, dasz nicht ueber den Krieg
gesprochen werden darf. Bouteflika persoenlich hat zwar waehrend
seiner Reise nach Frankreich im Juni gegenueber franzoesischen
Journalisten die Zahl von 150 000 Toten angegeben, so wie er bei
Amtsantritt von 10 000 "Verschwundenen" gesprochen hat, doch darf
nicht gefragt werden, wer fuer diese erschreckende Zahl von Opfern
verantwortlich ist. Ein neues Geschichtsverstaendnis wird
festgeschrieben: Die Epoche "Vor-Bouteflika", "das Jahrzehnt des
Terrorismus" gehoert der Vergangenheit an, ueber die nicht
gesprochen werden darf und das neue Zeitalter des Friedens, das
Bouteflika eingeleitet hat, ist nun angebrochen. Im Gegensatz zu
den Jahren davor wird also die Zahl der Opfer keineswegs geleugnet
(bis zum Amtsantritt von Bouteflika wurde offiziell von 26 000
Toten und einigen Hunderten von Verschwundenen gesprochen), aber
durch die nachhaltigen Folgen der offiziellen Kriegspropaganda und
der allgemeinen Tabuisierung der staatlichen Repression werden
diese Opfer entweder als Opfer des "islamistischen Terrors"
dargestellt oder sind ganz einfach namenlos. Das furchtbare Symbol
der anonymen Toten ist auf Tausenden von Graebern zu sehen, auf
denen anstelle eines identifizierbaren Grabsteines ein Schild, mit
einem X versehen, aufgestellt wurde. Die Behoerden haben die
Identifikation der Leichen durch die Familien verhindert, um sie
im Ungewissen zu lassen und moegliche Proteste im Keim zu
ersticken.

Dieses neue Geschichtsverstaendnis macht es sogar moeglich, dasz
eine staatliche Verantwortung fuer Menschenrechtsverletzungen
nicht gaenzlich geleugnet wird. Uebergriffe und "technische
Fehler" der Sicherheitsdienste werden in geringem Umfang
zugestanden, doch die systematische Anwendung der Folter, das
Ausmasz des "Verschwindenlassens" oder die Teilnahme der Militaers
an Massakern werden vollstaendig abgestritten und als Propaganda
abgetan, bzw. tabuisiert. Diese Amnesie, gekoppelt mit dem Diktat
des befriedeten Landes, hat gewaltige Folgen, da die Opfer der
Verfolgung orientierungslos sind und kaum Anlaufstellen finden.
Die einzigen, die sich das auferlegte Schweigen verbieten, sind
die Angehoerigen der "Verschwundenen". Trotz Einschuechterungen
durch staatliche Organe und Empfehlungen von islamistischer Seite,
diese Frage vorerst zurueckzustellen, fuehren sie ihren Kampf fuer
die Wahrheit weiter.

* Die "zivile Eintracht" ersetzt keine Versoehnung*

Waehrend die politische Klasse sich mit dem Antritt Bouteflikas
entsprechend den veraenderten Machtkonstellationen neu
zusammensetzen musz (jeder Praesident versucht, die Machtposition,
die er erhaelt, auszubauen, indem er, soweit es die Konkurrenten
zulassen, sein Klientel auf Entscheidungsposten in Verwaltung,
Medien und staatlichen Sektoren setzt), werden die wesentlichen
Probleme in den Hintergrund gedraengt: die vollstaendige
Destrukturierung - unter dem Diktat des IWF - der
Staatswirtschaft, die Hunderttausende in die Arbeitslosigkeit
zwingt und verheerende soziale Konsequenzen mit sich bringt.
Millionen Menschen werden in die Armut gedraengt, waehrend eine
kleine Kaste von Militaers und ihr Klientel davon profitiert.
Obwohl es Bouteflika gelungen ist, ein positives Bild Algeriens in
die Welt zu tragen, bleibt dieses System weiterhin sehr labil:
Auch wenn die Opposition zerschlagen und die Bevoelkerung
eingeschuechtert, terrorisiert ist und verzweifelt um ihr
Ueberleben ringt, manifestieren sich soziale und politische
Konflikte zusehends auf allen Ebenen. Streiks und Demonstrationen
sind an der Tagesordnung.

Aber auch an der Spitze des Staates ist die Krise unuebersehbar:
Bouteflika hat acht Monate gebraucht, um eine neue Regierung
zusammenzusetzen, die nach kaum weiteren acht Monaten wieder
grundlegend veraendert werden muszte. In diesen 16 Monaten ist auf
Regierungsebene schlicht nichts geschehen: weder im sozialen
Bereich sind die katastrophalen Folgen der Arbeitslosigkeit und
Verarmung angegangen, noch im oekonomischen Bereich, Masznahmen
ergriffen worden, die die erwartete Investitionsfreudigkeit
auslaendischer Firmen entscheidend erhoehen wuerden. Als eine
Folge des Strukturanpassungsprogramms entledigen sich die
staatlichen Institutionen ihrer elementaren Verpflichtungen in der
Krankenfuersorge, sozialem Wohnungsbau, Schulpflicht, Sozialhilfe,
usw. und die Armut nimmt immer erschreckendere Ausmasze an, in
einem Land, das zu den reichsten der Region zaehlte: die Gehaelter
haben sich in 10 Jahren halbiert, etwa 23% der Bevoelkerung lebt
unter dem Existenzminimum, 40% der aktiven Bevoelkerung ist
arbeitslos, die Analphabetenquote nimmt rasant zu, usw.

*Eine besorgniserregende Sicherheitslage*

Waehrenddessen hat auch der versprochene Friede nicht Einzug
gehalten. Die Zahl der Opfer ist erschreckend. Seitdem die Frist
fuer "Reumuetige" offiziell abgelaufen ist, dem 13. Januar 2000,
werden durchschnittlich 200 bis 250 Menschen monatlich ermordet
oder sind Opfer von Anschlaegen. In den hiesigen Medien wird kaum
darueber berichtet und es bleibt weiterhin unklar, wer mordet und
wer ermordet wird.

Diese Frage, die immer im Keim erstickt worden ist, wird heute
noch seltener gestellt als in den Jahren zuvor, obwohl sie genau
so dringend ist.

Seit 1992 und dem Beginn des Krieges herrscht Konsens darueber,
dasz die Islamisten fuer die in Algerien herrschende Gewalt
verantwortlich sind. Die zahlreichen staatlichen
Menschenrechtsverletzungen wurden folglich ueberwiegend
minimisiert oder gerechtfertigt. Massaker wurden stets als von
Islamisten veruebte Verbrechen dargestellt und die Frage "wer
toetet?" kurzerhand als "unanstaendig" abgetan. Erst mit den
spektakulaeren Massakern des Sommers 1997 wurde dieses Raetsel
etwas mehr in der Oeffentlichkeit diskutiert, um jedoch bald
wieder verdraengt zu werden. Zu diesem Zeitpunkt war die
Entruestung am groeszten und selbst die deutschen
Laenderinnenministerien haben einen Abschiebestopp nach Algerien
diskutiert. Seit die Zahl der Opfer stark zurueckging und das
Niveau der Gewalt wieder das der vorherigen Jahre erreichte, ist
Algerien kein Thema mehr. Die groszen Massaker dieser Periode sind
seitdem zum Maszstab geworden und jede Zahl von Toten, die
darunter liegt, scheint vertretbar. Konsens besteht zudem
darueber, dasz die Lage sich gebessert hat, und westliche
Regierungen und die westliche Oeffentlichkeit (von den groszen
Menschenrechtsorganisationen mal abgesehen) unterstuetzen bis
heute nicht die Forderung nach Untersuchungen der Massaker und
anderer Menschenrechtsverletzungen. Bis heute ist keiner der Morde
an Intellektuellen, Journalisten und Politikern aufgeklaert worden
(der letzte spektakulaere politische Mord an Abdelkader Hachanifand
im November 1999 statt), bis heute sind die Verantwortlichen
der Massaker nicht festgenommen und vor Gericht gestellt worden.

Seit der "Ernennungswahl" von Bouteflika wird der Kurs des
Praesidenten allerorts gelobt. Er wird zum Baumeister des Friedens
hochstilisiert, habe er doch die einstigen Feinde amnestiert und
in die Gesellschaft integriert. Wie sieht jedoch die Realitaet
aus?

Wie schon erwaehnt, sind die Modalitaeten der Einigung zwischen
dem algerischen Militaer und der AIS, bzw. der Gruppen, die sich
bereits im Oktober 1997 dem Waffenstillstand angeschlossen haben,
nicht bekannt. Sie haben sich den Behoerden gestellt, die zuvor
Listen angefertigt hatten und sollten in Freiheit leben.
Allerdings wird berichtet, dasz unter den Amnestierten manche in
Haft sind. Was dennoch beunruhigend ist, sind die immer
haeufigeren Meldungen ueber die Liquidierung von ex-AIS-
Mitgliedern. In den Zeitungen wird meist berichtet, dasz sie Opfer
von Racheakten waren, aber es gibt auch Hinweise auf die
Beteiligung von Milizionaeren (die unter der staatlichen
Autoritaet stehen) an diesen Ermordungen. Inwieweit auch
staatliche Stellen dafuer verantwortlich sind, ist nicht bekannt.

Die "Reumuetigen", die dem Angebot der Regierung nachgegangen sind
und sich ihr gestellt haben, befinden sich in einer aehnlichen
Lage. Es ist verwunderlich, wie schnell diese Mitglieder
bewaffneter Gruppen, ohne dasz Untersuchungen angestrengt wurden,
von den Bewaehrungskommissionen freigesprochen wurden. Gilt hier
das Gesetz des Schweigens auf beiden Seiten? Dennoch werden auch
hier Informationen bekannt, dasz freigesprochene "Reumuetige"
spaeter wieder festgenommen und zu langen Haftstrafen verurteilt
wurden.

Da bis heute keine ausreichenden Informationen ueber die
juristische Handhabung des erlassenen Gesetzes der "zivilen
Eintracht" vorliegen, kann den einst von Kritikern geaeuszerten
Ueberlegungen, es diene vorrangig der Rehabilitierung
eingeschleuster Geheimdienstler, nicht widersprochen werden.
Darueber hinaus scheint diese Regelung nicht immer fuer gewaltlose
politische Oppositionelle zu gelten. Ein konkretes Beispiel
hierfuer liefert der Fall von Samir Hamdi Pacha: Geboren am 23.
April 1966, verheiratet und Vater von zwei Kindern, im Bereich
Informatik taetig, floh 1993 in die USA, weil er aufgrund seiner
FIS-Zugehoerigkeit verfolgt war. In den USA war er exilpolitisch
taetig. Im Rahmen der sogenannten Amnestie (Gesetz zur "zivilen
Eintracht", gueltig zwischen dem 13. Juli 1999 und dem 13. Januar
2000) fuer "Reumuetige" fuhr er nach Algerien zurueck und stellte
sich den algerischen Behoerden. Gleich am Flughafen wurde er am 2.
November 1999 festgenommen und einer Bewaehrungskommission
vorgefuehrt, die am 3. November 1999 eine Bescheinigung
ausstellte, die ihn von jeglicher Strafverfolgung befreite. Er
wurde daraufhin freigelassen. Am 22. Dezember 1999 erschienen zwei
Maenner in zivil bei ihm zu Hause und stellten sich als
Sicherheitskraefte vor, die ihn nur mal kurz zur Vernehmung
mitnehmen wollten. Seitdem war er "verschwunden". Eine Woche
spaeter kamen diese beiden Maenner ein zweites Mal und verlangten
den Pasz. Herr Hamdi Pacha tauchte erst Anfang Mai 2000 nach
viermonatigem "Verschwinden" im Militaergefaengnis von Blida
wieder auf. Er hatte sehr stark abgenommen, ob er gefoltert wurde,
ist uns nicht bekannt. Er wartet auf eine Gerichtsverhandlung,
obwohl er von dieser Bewaehrungskommission von jeglicher
Verfolgung befreit worden war.

Folter, Verschwindenlassen und willkuerliche Festnahmen haben in
der Tat sehr stark abgenommen auch wenn sie nicht vollstaendig
verschwunden sind. Allerdings werden sie auch selten bekannt.
Dennoch ist die Lage beunruhigend, da die Morde und Massaker
fortgesetzt werden und oft unklar ist, wer sie veruebt und warum
wer ermordet wird. Die Meldungen in den algerischen Zeitungen
ueber agierende bewaffnete Gruppen sagen nicht viel aus ueber ihre
Identitaet und Motive. Handelt es sich um politische Morde von
Islamisten, gehoeren sie zum Register des Banditismus oder agieren
immer noch "falsche" islamistische GIA? Sind die Todesschwadronen
aufgeloest worden? Warum werden die etwa 300 000 Milizionaere
nicht entwaffnet?

Da keine ernsthafte Initiative ergriffen wurde, eine politische
Loesung der Krise zu finden, ist die Situation sehr prekaer und
explosiv. Das aktuelle Regime basiert weiterhin auf der Macht des
Militaers, das zwar seinen Sieg ueber eine bewaffnete Opposition
durch eine taeuschende Amnestierung vorlaeufig besiegelt hat, aber
keine Demokratisierung zulaeszt. Der Frieden, den die Generaele
durchzusetzen versuchen, ist ein Friedhofsfrieden. Die Methoden
der Repression haben sich geaendert. Sie sind subtiler geworden
und die Angst, die kurzzeitig in den Hintergrund gedraengt worden
war, hat wieder Einzug gehalten. Aber die Menschen in Algerien
haben nicht aufgegeben, gegen dieses Regime zu kaempfen und das
Militaer hat den Krieg gegen sie nicht beendet. Die Proteste der
Familien der "Verschwundenen" zeugen davon, ebenso wie der
regelmaeszige Versuch, sie zum Schweigen zu zwingen. *algeria-
watch*

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