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Aussendungszeitpunkt: 20. Februar 2001 - 14:05
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Kapitalismus/Nord-Sued/Nachlese/Kommentare (I):

> Anything goes?

Erstes Weltsozialforum in Porto Alegre: Geburt einer neuen
globalen Bewegung?

Bis zu 16.000 Menschen kamen Ende Januar nach Porto Alegre, der
Hauptstadt des suedbrasilianischen Bundesstaates Rio Grande do
Sul, zum ersten Weltsozialforum. Insgesamt nahmen
zivilgesellschaftliche Gruppen aus ueber 120 Laendern teil. Keiner
hatte auch nur ansatzweise mit einer solchen Resonanz gerechnet.
Entsprechend euphorisch feierten viele TeilnehmerInnen das Forum
als Geburtsstunde einer neuen globalen Bewegung gegen die
neoliberale Form der Globalisierung. Von MICHAEL WINDFUHR, FIAN

*

Organisiert wurde das Forum von einer Allianz brasilianischer
Nichtregierungsorganisationen. Diese hatten zusammen mit "Le Monde
Diplomatique" und der AttacBewegung seit dem Genfer
"Weltsozialgipfel plus 5"-Treffen im Juni 2000 fuer eine
Parallelveranstaltung zum Davoser Weitwirtschaftsforum geworben.
Knapp 800 Personen waren bis Ende Dezember angemeldet. Die
Organisatoren erwarteten schon keine allzu grosze Veranstaltung
mehr. Bis zum Beginn der Konferenz hatte sich die Zahl dann auf
3.000 erhoeht. Am zweiten Tag muszten alle Nachanmeldungen und
Teilnahmeausweiskontrollen eingestellt werden, zu grosz war der
Andrang im "Event Centre" der katholischen Universitaet von Porto
Alegre.
 

Eine andere Weit ist moeglich

So schwankten die Angaben ueber die Teilnehmerzahl zwischen 8.000
bis 10.000 in der Presse und knapp 16.000 durch die Organisatoren.
Die mit Abstand meisten kamen aus Brasilien und den
Nachbarlaendern, aus Argentinien, Paraguay und Uruguay. Insgesamt
wurde das Weltsozialforum eine bunte Veranstaltung mit vielen
spontanen Aktionen, Straszentheater und einer Groszdemonstration
(ueber 20.000 Teilnehmer) zum Auftakt.

Die gesamte Veranstaltung war hervorragend vorbereitet.
Finanzielle Unterstuetzung durch die Stadt Porto Alegre und den
Bundesstaat Rio Grande do Sul, beide von der brasilianischen
Arbeiterpartei (PT) regiert, garantierten sowohl ein hochmodernes
Konferenzzentrum, wie auch eine technische und organisatorisch
reibungslose Organisation. Waehrend vormittags in vier parallelen
Themengebieten auf Podien diskutiert wurde, fanden nachmittags
Workshop unterschiedlichster Natur statt. Ueber 470 solcher
Werkstaetten wurden angeboten.

Unter dem Motto "Eine andere Weit ist moeglich" hatten die
Veranstalter alle Anfragen zur Teilnahme und alle Angebote an
Veranstaltungen zugelassen. Viele konzentrierten sich auf globale
Themen, wie die Tobin Tax, das internationale Finanzsystem etc.
Doch auch ansonsten weniger beachtete Themen wurden behandelt, vom
der Agrarreform ueber wirtschaftliche, soziale und kulturelle
Menschenrechte, bis hin zu Fragen alternativer oekonomischer
Modelle auf kommunaler und lokaler Basis. Porto Alegre, die in
Brasilien fuer partizipative Stadt und Haushaltsplanung beruehmt
gewordene Stadt, war nach Ansicht vieler ein idealer Ausgangspunkt
nicht nur fuer eine globale Umsteuerung zu einer "anderen Welt",
sondern stand auch fuer das Wissen um die kleinen, aber
notwendigen Veraenderungen.

Das Forum wurde dadurch fast so bunt wie ein Kirchentag. Das
"Anything goes" der Veranstalter fuehrte allerdings nicht
unbedingt zu inhaltlicher Stringenz. Zum Thema Welthandel fanden
sich beispielsweise vier grundverschiedene Positionen auf
demselben Podium, von der Forderung nach sozialistischen
Alternativen zum Kapitalismus, ueber die Abschaffung der VVTO, die
Forderung einer intelligenten Nutzung der WTORegeln, bis hin zur
alten entwicklungspolitischen Forderung nach Beseitigung von
Handelshemmnissen fuer Entwicklungslaender. Manchmal konnte der
Eindruck nicht ganz zurueckgedraengt werden, dasz das Spektrum der
Workshops auch grosze postmoderne Beliebigkeit ausdrueckte. Von
Veranstaltungen ueber lokale Gesundheitsversorung in
brasilianischen Megastaedten bis hin zur (uebrigens sehr
umstrittenen) Werbeveranstaltung der kolumbianischen Guerilla-
Bewegung FARC war alles anzutreffen.
 

Agenda 2001

Eine wichtige politische Rolle uebernahmen in Porto Alegre die
sozialen Basisbewegungen. Sie luden zum "Treffen der Bewegungen"
ein. Bei einem ersten Treffen wurde mit 300 TeilnehmerInnen ueber
eine moegliche gemeinsame Agenda fuer das Jahr 2001 und ein
politisches Abschluszdokument diskutiert. Ein zweites Treffen zwei
Tage spaeter entwickelte sich zur Plenumsveranstaltung. Gut 1.500
Personen diskutierten und verabschiedeten einen Abschlusztext der
Bewegungen, auch wenn das Forum offiziell ohne Schluszdokument
auskam  keiner wollte wegen der Heterogenitaet der Organisatoren
und Teilnehmer ein solches Dokument erstellen.

Die Agenda fuer das kommende Jahr ist stark an multilateralen
Ereignissen der Staatenwelt orientiert. So stehen als Eckpunkte im
April die Treffen fuer eine amerikanische Freihandeiszone in
Buenos Aires und Quebec auf der Tagesordnung. Fuer Juli steht das
Gipfeltreffen der G7 bzw. G8 in Genua an. Die geplante WTO-
Ministerkonferenz im November wird ein weiterer Eckpunkt des
gemeinsamen Vorgehens sein. Es entbehrete nicht einer gewissen
Komik, dasz die versammelten WTO-Gegner die WTO in einem
Protestbrief nebst Unterschriftensammlung aufforderten, die
Ministerkonferenz im kommenden November wegen zweifelhafter
demokratischer Verhaeltnisse nicht in Katar stattfinden zu lassen,
sondern in ein anderes Land zu verlegen, in dem die
Demonstrationsrechte etc. gewaehrleistet seien.

Triebkraefte fuer die Treffen der Bewegungen waren "La via
campesina" (VC), der weltweite Zusammenschlusz von
Kleinbauernorganisationen, und die Attac-Bewegung. Am besten von
allien Bewegungen duerfte inzwischen "La via campesina"
organisiert sein. Im Anschlusz an das Forum hatte VC ein
internationales Treffen von Mitgliedsorganisationen organisiert.
VC war deshalb mit einer sehr internationalen Delegation
vertreten. Ihr nationales brasilianisches Mitglied, die
Landlosenbewegung (MST), hatte parallel zum Forum die Besetzung
von Testfeldern des multinationalen SaatgutKonzerns Monsanto in
Rio Grande do Sul organisiert, auf denen gentechnisches
veraendertes Soja wuchs. MST und VC zerstoerten ca. 3 ha
Sojafelder und Zellkulturen in den MonsantoLaboratorien. Diese
Aktion wurde nicht nur intensiv in der brasilianischen Presse
diskutiert, sondern verhalf dem Weltsozialforum und dem ohnehin
schon prominenten Bauernfuehrer Jos‚ Bov‚ unfreiwillig zu
zusaetzlicher Bekanntheit.
 

Anti-Davos oder Porto Allegre?

Was ist wichtiger? So lautete die auf den Gaengen oft gestellte
Frage. Beides ist noetig, war eine haeufige Antwort. Das Forum
kann sicherlich als Auftakt fuer eine intensivere Debatte
zivilgesellschaftlicher Organisationen bewertet werden, die eine
andere Welt fuer moeglich halten. Jenseits der Proteste gegen eine
Weltkonferenz oder eine Ministerkonferenz waren viele spannende
Workshops und der Aufbau von Kontakten moeglich.

Fraglich ist allerdings, ob die Organisationsform nicht eher einen
Markt der Moeglichkeiten erlaubte als eine gemeinsame politischen
Debatte. Der Versuch war dennoch nicht nutzlos. Konturen von
Alternativen wurden intensiv diskutiert. Dabei standen nicht nur
einige Instrumente zur globalen Regulierung im Blick, wie die
TobinTax, sondern auch die Elemente einer solidarischeren
Wirtschaftpolitik auf kommunaler oder lokaler Ebene. Ob alle diese
Ueberlegungen inhaltlich oder konzeptionell zusammenpassen, ist
nicht zu Ende diskutiert. Folgerichtig wurde ein zweites
Weltsozialforum fuer Januar 2002 beschlossen.
Ob die Entscheidung des Organisationskreises gut war, dieses
erneut in Porto Alegre auszurichten, war dann allerdings
umstritten. Der anstehende Wahlkampf in Brasilien fuehrte bei
vielen zu der Befuerchtung, dasz das Forum von der PT zu
Wahlkampfzwecken mitgenutzt werden koennten. Andere Teilnehmer
befuerworteten einen Wechsel des Veranstaltungsortes nach Asien
oder Afrika, um eine staerkere Partizipation aus diesen
Kontinenten zu ermoeglichen. Ein zukuenftiger Wechsel der
Veranstaltungsorte wurde jedenfalls nicht ausgeschlossen. Die
Formierung einer globalen Zivilgesellschaft von unten geht weiter.***

*Dieser Text ist "Weltwirtschaft und Entwicklung" (WEED) entnommen*
*und wurde von ATTAC Austria weitergeleitet*

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