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Aussendungszeitpunkt: 29.6.2000; 00:45
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Kapitalismus/Widerstand:

> "Das Gras waechst!"

Am 16./17.06.2000 fanden in Frankfurt/Main die
"AKTIONSTAGE GEGEN DIE MACHT DES GROSZEN GELDES"
statt.

Von unserem Korrespondenten. ;-)

*

Frankfurt ist bekanntlich Sitz der Eurobank und fast aller
wichtiger deutscher Groszbanken sowie der neben London
wichtigsten Boerse in Europa. Ein breites Buendnis - die
Jusos, die Ordensleuten fuer den Frieden in der Welt, die
Initiative Kirche von unten (IKVU), die Kuenstler in Aktion,
die Gruppe OWUS, die PDS-Bundestagsfraktion, die Rosa
Luxemburg-Stiftung, die Business Crime Control und der
ASTA der Uni Frankfurt - trug die Aktionen und Tagungs-
veranstaltungen.

Zum Auftakt wurden saemtliche Eingaenge einer deutschen
Bank eine Stunde lang blockiert. Vor dieser Bank halten die
Ordensleute fuer den Frieden seit 2 Jahren regelmaeszig alle
14 Tage eine Mahnwache ab. Thema der Mahnwachen ist die
Forderung nach Entschuldung der Laender der Dritten Welt,
deren Staatshaushalt allein durch die Zinsbedienung voellig
aufgerieben zu werden droht.

Die Reden von Jean Ziegler (Schweiz; zum Thema
Weltwirtschaft), WTO und Rainer Roth (FH Frankfurt/M;
zum Thema Staatsverschuldung), Kommunalverschuldung,
Frank Jaeger (Buendnis gegen den Sozialabbau), Manfred
See (Business Crime Controle e.V.), Gregor Gysi (MdB PDS;
zum Thema Bankenkontrolle) und das von internationalen
Kuenstlern gestaltete Rahmenprogramm zogen etwa 3000
Zuschauer an. Es traten auf: der weltbekannte exilchilenische
Sologitarrist Pablo Arduin, der Folksaenger Manfred
Maurenbrecher aus Berlin Kreuzberg, das Duo Nicola Nord
& Hans Bern mit ihrem Rio Reiser-Memorial, die Brecht-
Interpretin Barbara Thalheim. Hoehepunkt des
kuenstlerischen Rahmenprogramms war das Comeback von
Konstantin Wecker, der fuer diesen Tag extra einen
Boersenrap kreiert hatte.

Der ganze Samstag war Vortraegen in der Universitaet zu den
Themen der Veranstaltung gewidmet: "Shareholder Value
und erneuerbare Energien", "Kriminelle Oekonomie" sowie
"Solidaritaet als Philosophie und Praxis".

Bedauerlicherweise konnte Pierre Bordieux aus Paris aus
gesundheitlichen Gruenden nicht anreisen; er liesz stattdessen
eine Gruszbotschaft und Auschnitte seiner Rede verlesen. Im
Eingangsbereich war die Ausstellung "Die Deutsche Bank
und das Dritte Reich" nach Untersuchungen von Eberhard
Czichon aufgebaut; Interessenten koennen sich diese im
Internet unter www.bankwatch.de anschauen. Hier ist auch
das 17-seitige Referat von Pierre Bordieux herunterladbar;
die Ausstellung mit 14 Bild/Text-Tafeln ist ausleihbar ueber
die Rosa Luxemburg-Stiftung in Berlin.

***

Rede von Jean Ziegler auf dem Fest der Menschlichkeit
gegen die Bankenmacht, auf dem Opernplatz zu Frankfurt/M
am 16.6.2000:

GENOSSEN, GENOSSINNEN! ICH DANKE FUeR die
Einladung, vor Ihnen sprechen zu duerfen. In der Nacht vor
seiner Hinrichtung hat Antoine de Saint Just geschrieben:
"Zwischen dem Volk und seinen Feinden gibt es nichts
Gemeinsames, nichts als das Schwert."

Heute sind wir in einer solchen Situation. Es ist eine
Weltordnung entstanden, die den Primaerinteressen der
riesigen Mehrheit der Bewohner dieses Planeten diametral
entgegensteht. Im Kanton Graubuenden, in Davos, kommen
jedes Jahr im Monat Januar die Herren der Welt zusammen.
Die 1000 maechtigsten Herren der Banken, der Imperien, der
multinationalen Gesellschaften. 1996 war dort Hans
Thietmayer, der Chef der Deutschen Bundesbank. Und den
versammelten Staatschefs und Regierungschefs und
Ministern, die da in Davos saszen, hat Thietmayer gesagt:
"Von jetzt an steht ihr unter der Kontrolle der
Finanzmaerkte". Keiner hat aufbegehrt. Die europaeische
Union ist die groesste Wirtschaftsmacht, die es je gegeben
hat. 400 Millionen Konsumenten und Produzenten, 15
Staaten machen die EU aus. 11 von den 15 Staaten werden
von Sozialdemokraten regiert. Und diese alle nehmen die
Diktatur des planetarischen Finanzkapitals als eine Evidenz
hin, die ueber die Termination der politischen Souveraenitaet
hinaus reicht durch die hoehere Gewalt der
Boersenspekulation des Finanzkapitals und seine Logik der
reinen Profitmaximalisierung; wie sie von Herrn Schroeder,
Jospin wie sie alle heissen, als ein Naturgesetz hingenommen
werden - und das darf nicht sein. Das darf nicht sein. Jeden
Tag werden in Frankfurt, in London, in Paris, in Tokio auf
den Finanzplaetzen etwa 6000 Mrdn US Dollar gewechselt.
Die Weltbank hat ausgerechnet, das letztes Jahr ungefaehr 13
Prozent der im Umlauf sich befindlichen Kapitalien einer
Schuldenabgleichung bei der Waren- oder
Dienstleistungsschuld dienen; nur 13% ist wertschoepfendes
Kapital und der Rest, 87% ist Spekulationskapital, ist
virtuelles Kapital. Die Boersen beherrschen die Welt 24
Stunden; wenn Tokio schliesst, oeffnet New York; wenn
New York schlieszt, oeffnen Frankfurt, Paris, Zuerich und
London. Wir stehen unter der permanenten planetarischen
Herrschaft des Spekulationskapitals, des
Raubtierkapitalismus, das heiszt der Kasinospieler aus
wildwuetenden Boersenspekulanten. Max Weber hat 1919
gesagt: "Reichtum ist die lange Kette wertschoepfender
Menschen". Das stimmt heute ueberhaupt nicht mehr. Wir
sind in einer virtuellen Wirtschaft, wo Alchimisten wie im
Mittelalter aus Luft Gold machen. Jetzt die Frage: Welche
Welt machen diese Boersenspekulanten? Welche Welt hat
dieses ungebremste, nicht mehr durch Gesetze
eingeschraenkte, wildwuetende Finanzkapital
hervorgebracht? Wir sind 6 Mrdn Menschen auf dieser Welt,
heute. 4,8 Mrdn leben in einem der sogenannten 22
Entwicklungslaender. Die meisten unter Ihnen nicht wie
Menschen. Ich gebe ein Beispiel: der Hunger in der Welt.
Nach dem World Food Report von der FAO haben letztes
Jahr 828 Mio Menschen an schwerster Unterernaehrung
gelitten. Fast ein Sechstel. Davon sind 52 Mio direkt in
Hungersnoeten umgekommen und die anderen vielen 100
Millionen haben auch sogenannten strukturellen Hunger, sie
leiden an Invaliditaet, Blindheit usw. Und das auf einer Welt,
wo dieselbe FAO sagt, 12 Mrdn Menschen koennten ohne
Probleme ernaehrt werden; ernaehrt heisst: 2700 cal. pro
Individuum und Tag. Das Finanzkapital schafft
Massengraeber in der Dritten Welt. Es ist moerderisch. Es
schafft Knechtschaft, Arbeitslosigkeit, Erniedriung hier in
Frankfurt, bei mir in Genf, in Paris, in Wien, ueberall mitten
in Europa - 12,5% permanent Vollarbeitslose in der
Europaeischen Union und die Zahl ist steigend.

Eine letzte Bemerkung. Genossen, Genossinnen. Wir
muessen uns nicht Sand in die Augen streuen. Den
theoretischen Klassenkampf, wie Sartre gesagt hat, den
Kampf um die Bewusstseinsinhalte, den ideologischen, den
theoretischen Klassenkampf, den haben wir verloren.
Vorlaeufig verloren. Die neoliberale Ideologie herrscht
unbeschraenkt und sie ist toedlich gefaehrlich. Ich sehe das
bei meinen StudentInnen auch. Freiheit des Kapitals, Freiheit
der Dienstleistung, Freiheit der Patente, keine Territorialitaet
mehr. Diese Nationalstaaten, diese gewaehlten Parlamente,
die stoeren ja nur den freien Markt. Das darf ja nicht sein, die
muessen weg. Da weisz man ja nie, was das fuer Mehrheiten
gibt und so weiter. Zaehlen tut allein die "unsichtbare Hand",
der freie Markt, und je freier, je planetarischer er ist, desto
hoeher wird ja investiert, mit allen historisch-moralischen
Qualitaeten, die diese unglaubliche Propagandamaschine des
Neoliberalismus einsetzen kann. Das ist ein
Zivilisationsbruch. Das ist das Ende der Aufklaerung. Die
"unsichtbare Hand" ist die totale Irrationalitaet. Zivilisation
kann zu Ende gehen. Seit 200 Jahren leben wir unter dem
republikanischen System der delegierten Gewalt, der
Volkssouveraenitaet, der Menschenrechte, der internationalen
Solidaritaet. Wie Immanuel Kant einmal sagte:"Wir sind an
der Abbruchkante der Zeit." Jean Jacque Rousseau hat im
Contrat Sociale gesagt: "Zwischen dem Starken und dem
Schwachen ist es die Freiheit, die unterdrueckt und ist es das
Gesetz, das befreit."

Unser Kampf ist ein Kampf fuer die Erhaltung und
Wiederherstellung der Internationalen Solidaritaet, der
Volkssouveraenitaet, der Bankenkontrolle und
Verstaatlichung, des Bruches mit der ideoligischen
Herrschaft des irrationalen, totalen,
bewusstseinsentfremdeten Neoliberalismus; zurueck zum
Menschen als einzigem Geschichtssubjekt, zurueck zum
Menschen als einziger Quelle politischer Souveraenitaet.
Koennen wir diesen Kampf gewinnen? Ein Anfang ist heute
gemacht. In Paris, in Wien, wo der Haider ist, sogar in
Zuerich, wo die Hoehlenbewohner von der Bahnhofstrasse
regieren gibt es Versammlungen, wie hier. Und Karl Marx
hat gesagt: "Der Revolutionaer musz im Stande sein, das
Gras wachsen zu hoeren." Und ich glaube, Gras waechst. Das
waechst. Diese Bruederlichkeit der Nacht, "la fraternit‚ de la
nuit", ueberall sieht man es: Bruch in Seattle, Anti-Davos,
morgen beim Sozialgipfel in Genf, ueberall ist Protest,
Opposition, Bruch, Verweigerung angesagt, von konkreten
Menschen gegen die blindwuetende Macht des
planetarisierten Finanzkapitals. Zum Abschluss: Die Frage ist
immer diesselbe - wo ist Hoffnung? Hoffnung ist im Willen
zur Gerechtigkeit, der in jedem von uns ist. Pablo Neruda, der
chilenische Poet, hat das sehr schoen ausgedrueckt; er hat
geschrieben: "porte porta las flores berocha la mas detendran
la primavera" - sie koennen alle Blumen abschneiden, aber
nie werden sie den Fruehling beherrschen".     *akin FfM*
 
 
 

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