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Aussendungszeitpunkt: 30.8.2000; 00:30
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Balkan:

> Was alles noch ein Glueck ist

Ein albanisches Tagebuch, Teil VI

Von Andreas Jordan

Mit der Fluechtlingsregistrierung wird es ernst, wir fahren einen
Monat in die Berge im Wilden Norden Albaniens.

Unser erstes Ziel ist Shkoder an der montenegrinischen Grenze. Die
Strasse ist zuerst soso lala, nach hundert Kilometern aber
ploetzlich ausnehmend gut ausgebaut und asphaltiert. Diese Strasse
in auffaellig gutem Zustand endet ploetzlich voellig abrupt vor
einem Gittertor mit Soldaten dahinter und einem Schild "Flughafen"
vorn dran. Ein Scherz?!? - Die Fortsetzung der tollen Strasse ist
eine einspurige Schotterpiste, die sich in Kurven um einen etliche
Kilometer langen, steilen, einige hundert Meter hohen, kahlen Berg
herumwindet.

Mein Fahrer klaert mich auf: Der Berg sei mit 20 km Stollen
ausgehoehlt und beinhalte eine komplette unterirdische
Militaerstadt plus Flughafen - im Kriegsfall kaemen die Flugzeuge
durch Stollen aus dem Berg. - Tatsaechlich, nach einigen
Kilometern Umfahrung des Berges kreuzt unsere Schotterpiste erst
eine Landebahn, die direkt auf den Berg zufuehrt, eine Stueck
weiter eine zweite. Und nach annaehernd 10 km muendet die
Schotterpiste uebergangslos im rechten Winkel auf eine ausnehmend
gut asphaltierte Strasse, die auf den Berg zufuehrt, diesmal von
der anderen Seite.

Mein Fahrer, der so viel Deutsch kann, wie man eben spricht, wenn
man es vor 30 Jahren zwei Jahre lang in der Schule gelernt hat,
versucht mir immer wieder Dinge aus der Geschichte des Landes zu
erklaeren - manchmal verstehe ich sogar, was er meint - und ist
auch sonst ein Muster an Geduld: Nicht nur, dass er Verkehrsregeln
meistens befolgt, er faehrt auch sehr auf Sicherheit und trinkt
keinen Tropfen Alkohol im Dienst, sich in all diesen Punkten
wohltuend vom anderen Fahrer unterscheidend, den uns die Regierung
"geborgt" hat und der nicht nur wie eine Wildsau faehrt, sondern
gestern am Abend auch noch strunzbesoffen autogefahren ist.
(Obwohl, einem geborgten Gaul, und so.... Ich habe "unsere" Leute
auf alle Faelle angehalten, NICHT in seinem Auto mitzufahren, wenn
er was getrunken hat, das ist alles, was ich an Sanktionen setzen
kann gegen jemand, der mir weder formal untersteht noch von
"meiner" Organisation bezahlt wird.)

Die Einfahrt in Shkoder wird durch eine Kuh blockiert, die mitten
auf der Strasse steht, und eine triefaeugige Alte pruegelt mit
einem Bambusstecken auf sie ein, um uns die Weiterfahrt zu
ermoeglichen.

Ueber uns auf der Krone eines steilen Felshangs eine monumentale
Burgmauer, Rozafa, gegruendet als Festung eines illyrischen Clans
vor 2400 Jahren, von den verschiedensten Herrschern uebernommen,
einer von Skanderbegs wichtigsten Stuetzpunkten gegen die Osmanen,
und im albanischen Unabhaengigkeitskrieg 1911/12 ein Jahr lang
gegen montenegrinische Einnahmeversuche verteidigt. Die Festung
nimmt die ganze Bergkuppe ein, hunderte Meter lang und breit, unddie Tuerme und
Mauern sind, wiewohl Ruinen, immer noch ueber 10m
hoch.

Naechster Eindruck im Ort: Eine dreifach lebensgrosse Bronzestatue
von Isa Boletini, dem aus dem Kosovo gebuertigen Helden des
albanischen Unabhaengigkeitskrieges (Onkel des Mannes, der uns vor
zwei Wochen in Tirana sein Leben erzaehlt hat und der wegen Kritik
am Enver-Hodscha-Kult acht Jahre in albanischen Gefaengnissen
gesessen ist).

Bei der Suche nach dem Fluechtlingsamt werden wir dreimal vom
Gemeindeamt auf die Praefektur und zweimal von dort wieder aufs
Gemeindeamt zurueckgeschickt - am Ende, nach zwei Stunden, stellt
sich heraus, dass die Frau, die uns immer wieder auf die
Praefektur geschickt hat, die eigentliche Zustaendige ist. Das Amt
wird gefunden, wir richten uns ein und harren der Fluechtlinge.

Am Abend wird das Ufer des Shkoder-Sees, an dem die Stadt liegt,
exploriert: Eine einspurige Strasse fuehrt am Ufer entlang
unterhalb eines Berghangs nach Norden, Richtung Montenegro. Das
druebige Seeufer gehoert schon zum Nachbarland. Bis vor wenigen
Jahren war diese ganze Zone Sperrgebiet, und jeder praesumptive
Badende musste einen Ausweis bei sich tragen, dessen Daten notiert
wurden, und Fragen beantworten.

Der See ist zu meinem grossen Erstaunen voellig klar und blaugruen
(bisher hab ich ja nur die schlammigen Fluesse Zentralalbaniens
gesehen, auf denen dreckiger Plastikmuell treibt), und beim
nachherigen Schwimmen wird er sich als genau richtig temperiert
fuer Badefreuden erweisen. Am drueberen Ufer, in Montenegro,
steigt eine 2000 m hohe Felswand so steil auf, dass einem beim
Hinschauen fast die Spucke wegbleibt. Und dazu die milden Strahlen
der tiefstehenden Sonne, waehrend mensch (versammeltes Team) auf
der Terasse eines Strandcafes sitzt, gekuehlten albanischen
Riesling trinkt, gebratenen Aal isz und das Gefuehl nicht loswird,
nach den sechs Wochen im Trubel der Hauptstadt sei jetzt der
Urlaub ausgebrochen. Froesche quaken, sogar ein Haeschen schaut
kurz vorbei. Und als Abschluss kulminiert die Szene in einem
makellosen Untergang der leicht oval verzerrten, roten
Sonnenscheibe hinter den wildgezackten Bergen Montenegros.

Am naechsten Morgen weckt mich im Hotelzimmer der Ruf des Muezzins
von der brandneu restaurierten Moschee gegenueber, untermalt vom
Glockenspiel der katholischen Kathedrale gleich nebenan.

Ein paar Minuten spaeter wird die friedliche Morgenstimmung von
einer Salve aus einem Schnellfeuergewehr unterbrochen: Fuenf
Schuesse einen Block vom Hotel weg. Die Leute auf der Strasse
recken die Koepfe in die Richtung, die Polizei kommt, dann geht
alles weiter seinen alltaeglichen Trott. - Erschiessungen am
Morgen scheinen nicht so unueblich zu sein. (Am Vormittag werde
ich in dem Verzeichnis von NGO's in Nordalbanien, das ich mir
gestern bei der hiesigen OSCE-Mission geholt habe, fuer fast jeden
groesseren Ort der Region ein "Komitee zur Ueberwindung der
Blutrache" verzeichnet finden.....) (Eins ist klar: Alle
derartigen Akte beruhen auf alten Rechnungen zwischen Hiesigen,
und ich als Aussenstehender bin absolut nicht gefaehrdet - -
solange der Schuetze eine ruhige Hand hat und ich im Cafe nicht
zufaelligerweise allzunah neben dem praesumptiven Opfer sitze. Ichhabe meine
inzwischen reichlich verschwitzte UN-Uniformjacke auch
immer brav an hier, trotz der Hitze und meiner Antipathie gegen
Uniformen, aber das verhindert definitiv, vielleicht einmal einer
bloeden Verwechslung zum Opfer zu fallen.)

Mittagspause: Aufsuchen eines Marktbeisls zwecks Mittagessen. Der
Weg dorthin fuehrt zwangslaeufig ueber den Markt. Teilweise
barfuessige Frauen in sagenhaft exotisch wirkenden Trachten
(diverse bestickte Roecke in verschiedenen Farben und diversen
Laengen uebereinander, darunter Pluderhosen, dazu hoechst
eigenartige Kopfbedeckungen, unter denen rechts und links vor den
Ohren Bueschel von Locken hervorquellen, wie bei einer
Clownsmaske), die aussehen, als wenn man sie aus dem Foto eines
Berberdorfs im Rif oder im Hohen Atlas ausgeschnitten und
hierhergestellt haette, sowie hagere, dunkelgekleidete Maenner
verkaufen Gemuese, Obst, Schrauben, Kugellager, Huehnerfluegerl,
Badeschwaemme, einfach alles. In einer Plastikwanne plaetschern
ein paar Karpfen. (Der Shkoder-See-Karpfen ist, genauso wie die
Ohrid-See-Forelle, die ich waehrend meiner Ausbildungswoche in
Mazedonien an drei verschiedenen Tagen unter drei verschiedenen
Namen auf der Speisekarte gefunden habe, wobei sie, weil jedesmal
gleich angebrannt, auf dem Teller sofort wiederzuerkennen war,
eine endemische Art, soll heissen, eine Art Viech, die es nur an
einer Stelle der Welt gibt, eben in diesem Fall dem Shkoder-See -
plus in diesem Plastikwandl auf dem Markt.)

Das angesteuerte Beisl liegt hinter den Fleischbaenken. Ja,
richtige Baenke, auf denen die frischgeschlachteten Tiere zerteilt
und gleich verkauft werden. Vor zwei blutigen Rinderkoepfen ist
ein Kalb angebunden, das sich scheinbar nicht besonders
wohlfuehlt, darauf zu warten, dass die Reihe an ihm sei. Wer hier
noch ein Herz hat, wird zum Vegetarier! - Ich hingegen bin
scheinbar schon zu sehr verroht und betrete das nebenan
befindliche Lokal, um ein Maurerfruehstueck ("a Gulasch und a
Seidl Bier") zu ordern - welches umgehend serviert wird und von
bemerkenswertem Wohlgeschmack ist. (Kein Wunder bei der Frische
der Zutaten hier!) (Vorlaeufiges Happy-end: Am naechsten Tag zur
Mittagessenszeit wird das Kalb immer noch dort stehen, warten und
ungluecklich aussehen. Na hoffentlich hat ihm wenigstens jemand
Wasser und Futter gegeben inzwischen!)

Gestern am Vormittag habe ich einer Haelfte des Teams die
Moeglichkeit gegeben, sich die Burg anzusehen (was wegen deren
Oeffnungszeiten nur zur Arbeitszeit geht, aber eh wurscht, wir
haben hier eh nicht viel zu tun), und heute bin ich mit der
anderen Team-Haelfte zum Burgbesuch dran.

Die Anlage der Festung Rozafa ist spektakulaer: Auf einem steilen
Felskegel ueber der Landspitze, die Drina und Buna (die beiden
groeszen Fluesse Albaniens) bei ihrem Zusammenfluss bilden, liegt
die 2400 Jahre alte und drei Hektar grosse Burg. Die drei
Bauphasen (illyrisch, hochmittelalterlich, venezianisch/osmanisch)
erkennt man am Baumaterial: Die Illyrer haben Zyklopenmauern
errichtet, aus tonnenschweren Steinbloecken, die so genau
ineinandergefuegt sind, dass kaum Zement in die Fugen pasz. Die
zweite Phase stammt von einem lokalen Adelsgeschlecht, die dritte
steht im Zeichen der osmanischen Eroberungsfeldzuege: Die
Venezianer plus Albaner haben die Burg erfolgreich gegen den
ersten osmanischen Angriff (Ende des 14. Jahrhunderts) gehalten,die Osmanen sind
nach dem Verlust von 14.000 Mann wieder
abgezogen. Einige Jahrzehnte spaeter, beim zweiten Versuch, haben
sie sogar 30.000 Mann eingebuesz, dann aber doch eine
ausverhandelte Uebergabe der Festung erreicht. (Ueberhaupt soll
Rozafa in all den 2400 Jahren nie erobert, sondern immer nur
uebergeben worden sein. - Und ich frage mich jetzt, beim
Schreiben, inwieweit ich nicht auch diesem elitistischen
Geschichtskonzept, das nur in Herrschern und Schlachten rechnet,
auf den Leim gegangen bin, dessen Geist die kleine Ausstellung auf
der Ruine atmet.) Wenn man auf dem Minarett der Moschee-Ruine, dem
hoechsten Punkt der Anlage, steht, ist die blutige Vergangenheit
der Gegend aber nur minder interessant angesichts des
atemberaubenden Panoramas: Im Norden der Shkoder-See, der groesze
See des gesamten Balkans, umgeben von riesigen Schilfguerteln und
Feuchtwiesengebieten, gleich dahinter die Dinarischen Alpen mit
ihren Schneefeldern, bis fast 3000 m hoch, im Sueden die Drina, im
Suedwesten deren Zusammenfluss mit der Buna, und beide Fluesse
maeandrieren dahin, bilden hunderte Inseln und Schotterbaenke und
verhalten sich so urspruenglich, dass es eine Freude ist. Im
Westen wieder, in ca. 20 km Entfernung, ist das Meer sichtbar.
Jeder Biologiestudent wuerde vor Freude ueber die Biodiversitaet
auf kleinstem Raum fast umkippen, sogar ohne die endemischen
Karpfen. (Letztens ist uebrigens ein Rekord-Exemplar mit 35 kg
gefangen worden.)

Und sogar die Muellkippe, das Stueck der Burgmauer, ueber die das
kleine Lokal hier heroben seine Abfaelle entsorgt, indem es sie
einfach hinunterwirft, ist nicht ganz so ekelig wie sonst: Anstatt
dass Ratten zwischen dem Muell herumsausen, sind es hier sechs
oder sieben Schildkroeten, die im Schildkroetentempo zwischen dem
raschelnden Plastik und den Scherben auf der Suche nach Fressbarem
herumsteigen.

Bei der Burgbesichtigung taut mein Fahrer, ein aelterer Herr, ein
bisschen auf und erzaehlt aus seinem Leben: 1974, da war er 24
Jahre alt und Mitglied einer Fussballmannschaft in der 2.
Division, hat er sich nicht genug fuer Bunkerbau begeistert und
ist stattdessen ein paarmal fussballspielen gegangen. Ergebnis:
Die zweite Haelfte der Siebzigerjahre kennt er nur vom Hoerensagen
- erst 9 Monate Einzelhaft in einer kahlen 2x2m-Zelle,
unterbrochen von Verhoeren und Pruegeln, dann fuenf Jahre
"regulaeres" Gefaengnis wegen "Wehrkraftzersetzung" oder wie sich
das damals genannt hat. "Habe ich Glueck gehabt!"

Dass das keine leere Floskel war, wird mir spaetestens klar, als
ich wenige Tage spaeter, auf dem Weg nach Kukes, in einer
gottverlassenen Bergwuestenei ein ehemaliges Lager fuer politische
Haeftlinge gezeigt bekomme. In einer Gegend, wo es im Sommer ueber
40 Grad plus und im Winter bis zu 20 minus hat, haben die Leute in
ungeheizten Baracken gelebt, mit nur einer Decke fuer die
Pritsche, ohne Kopfbedeckung und mit kahlgeschorenen Schaedeln,
und haben unter Tage in Zwangsarbeit Kupfererz abgebaut. Es
scheint ein Wunder, dass es Menschen gegeben hat, die das
jahrelang ueberlebt haben. Recht auf Besuch: Einmal im Jahr - wenn
ueberhaupt.

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A.J. ist derzeit in Albanien als UN-Wahlbeobachter fuer
kosovitische Fluechtlinge.
 
 

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